Knuths Lost & Found Mai 29

 

Im Juni startet das Neun-Euro-Ticket. Günstig per Bahn reisen. Für Knuth kein Anlass, um aus der Fassung zu geraten. Ob Sylt oder Venedig unser SoSUE Mann reist gerne mit dem Zug und kann es nur empfehlen. Warum? Weil es für ihn die beste Form des Ankommens ist und er viel Zeit geschenkt bekommt. Außerdem findet ihr in seinem Monatsrückblick Bücher, TV-Serien und Musik, die euch vielleicht gefallen. Es würde Knuth freuen.

#MysteryTrain

Mai 2022 – Tamtam, Tamtam, Tamtam. So klingt es in meinen Ohren, wenn ich mit der Bahn unterwegs bin. Die Eisenbahnschwellen sorgen für einen Rhythmus, der einen besänftigt. Wahrscheinlich hat jeder Bahnhof seine eigene Begrüßungsmelodie. In Hamburg ist es ein barockes Adagio, weil die einlaufenden Züge gezwungen werden ihr Tempo zu drosseln. Denn der Hauptbahnhof ist ein wichtiges Drehkreuz, hier warten immer viele Züge auf ihre Abfertigung und Anschlüsse. Meine Ankunft wird sich verzögern.

Der ICE rollt langsam im Schritttempo über die Elbbrücken und ich kann in aller Ruhe das Stadtpanorama studieren, das sich wie ein Flügelaltar vor mir entfaltet. Elbe, Hafen, Michel, Fernsehturm, Elbphie und die Schiffe - fast alle Würdenträger der Hansestadt haben sich versammelt, um mich zu begrüßen. Als ich ein Kind war, konnte ich in den alten Waggons noch die Fenster herunterschieben und den Kopf raushalten. Viel Fahrtwind mit einer Brise weite Welt. Es war herrlich. Das geht leider heute nicht mehr. Während die Stahlträger der Brücke an mir vorbeiflimmern, entfalten die Duftstoffe der Vergangenheit ihre volle Kraft. Selbst im muffigen Großraumwagen bilde ich mir ein, dass ich die Elbe riechen kann. Jetzt bin ich zu Hause.

Ich bin in meinem Leben viel gereist und habe mich dafür entschieden, das Ankommen am besten für mich gelingt, wenn ich mit dem Zug reise. Dabei spielt es für mich keine Rolle, wo ich hinfahre. Hat der Zug erst einmal den Bahnhof verlassen, bin ich ganz fasziniert davon wie er die Landschaften und Orte zerschneidet, als würde ein Messer langsam durch alle Schichten einer riesigen Torte gleiten. Stadt, Vorstadt und Land wechseln sich immer wieder ab. Mal ist mein Blick aus dem Fenster verbaut und mal ist er endlos. Dabei fällt mir auf, dass es immer mehr Gegend gibt, die für nichts mehr steht. Es könnte München oder Hamburg sein. Ein Geflecht aus Betrieben, Reihenhäusern, Parkplätzen und Supermärkten, die alle Vorteile aus Provinz und Stadtrand in sich vereinen.

Neben dem Ankommen geht es mir gleichermaßen um die Zeit. Die Entscheidung, in einen Zug zu steigen, ist für mich immer auch eine Entscheidung für die Zeit. Heinrich Heine hatte schon recht, als er 1843 anlässlich der Eröffnung der Eisenbahnstrecke Paris-Rouen schrieb: „Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig“. Wenn die Eisenbahn den Raum getötet hat, dann hat das Flugzeug und das Auto die Zeit getötet. Als ich ein Vielflieger und ein Autofahrer war, fühlte ich mich von der Welt isoliert und von monotoner Hektik umspült. Das machte mich rastlos. Ich hatte nie Zeit.

Jetzt in der Pandemie im ersten Lockdown, vermisste ich das Reisen mit der Bahn. Aber da war noch mehr. Damals stand ich vor meinem Bücherregal. Hier wurde mir plötzlich bewusst, dass es noch einen weiteren wichtigen Grund gab: Viele meiner besten Bücher hatte ich unterwegs in Zügen gelesen. Mit manchen Titeln konnte ich sogar Bahnstrecken in Verbindung bringen. Es mag seltsam klingen, aber ich trauerte tatsächlich dem Lesen im Zug nach. Es ist für mich der perfekte Ort neben meinem Bett, um in Büchern zu schmökern. Das Schunkeln ist unglaublich beruhigend, hier kann mich ganz auf die Worte konzentrieren. Würde es eine Ringbahn geben, die nur im Kreis fährt, würde ich mir sofort ein Ticket kaufen, um dort zu lesen. In dieser Endlosschleife der Zeit würde das Ankommen nie aufhören. Ich könnte stundenlang lesen. Runde für Runde. Bahnhof für Bahnhof. Kapitel für Kapitel. Nur manchmal würde ich meine Lektüre für einen Moment verlassen, um den Sound der Schiene zu lauschen. Für viele Menschen mag das viel Tamtam um nichts sein, aber für mich ist es ein Wunschkonzert.

 

***

Wie fühlt sich eine Zeitenwende in Deutschland an? Wenn ich ehrlich bin, für mich fühlt es sich seit Wochen wie ein Kaugummi im Flokati an. Wir hängen fest. Müde schaut Kanzler Scholz in Berlin dem Krieg in der Ukraine zu. Wie viel Analysen braucht er noch? Wie viel Rücksicht will er auf Putin noch nehmen? Eine Demokratie wehrt sich gegen eine imperiale Diktatur, die kaltblütig brandschatzt, plündert, vergewaltigt und mordet. Hätte Winston Churchill so gehandelt, die Nazis hätten ein leichtes Spiel mit England gehabt. Besonnenheit und Nachdenken schließen Entschlossenheit und Handeln nicht aus. Beides ist möglich. Ich finde, wir sollten dem Land mit aller Kraft beistehen. Das wäre ein Anfang.

 


 

 Anatomie eines Skandals

 

 

Trotz nobler Herkunft, Vermögen, guter Ausbildung und einflussreichen Netzwerken benehmen sich Teile der Eliten wie Idioten und glauben, dass für sie keine Gesetze gelten. Woher nehmen sie sich dieses Selbstbewusstsein? Diese Frage stellt sich auch Sophie (Sienna Miller). Sie ist die Ehefrau eines britischen Politikers, der ein reicher und privilegierter Schnösel ist. Er muss sich wegen einer Vergewaltigung vor Gericht verantworten. Für ihn war es eine leidenschaftliche Affäre und er fühlt sich unschuldig. Sophie hinterfragt ihre Ehe und wird misstrauisch. Ein fesselndes Gerichtsdrama voller Wendungen. Michelle Dockery (Downton Abbey) als harte Staatsanwältin, die mit Sophies Ehemann auch noch ein Hühnchen zu rupfen hat, ist richtig gut. Tolle Miniserie.

Anatomie eines Skandals , verfügbar auf Netflix

 


 

Hair Love

 

 

Wenn Väter ihren kleinen Töchtern einen Pferdeschwanz machen sollen, sind sie komplett überfordert. Keine leichte Sache. Der kleinen Zuri geht es ähnlich, sie möchte Zöpfe haben, aber Ihre Mutter ist nicht da. Es hilft nichts, ihr Vater muss ran. Und der braucht ein paar Versuche, um ihre üppige Afro-Frisur zu bändigen und zu stylen. Ein herzerwärmendes Bilderbuch über einen fürsorglichen Vater und seiner Tochter. Im Anschluss der Geschichte gibt es noch jede Menge Tipps über Afrofrisuren. Ich habe es sofort meiner Nichte geschenkt. Vielleicht hat sie bei meinem nächsten Besuch coole Cornrows. Wundern würde es mich nicht.

Hair Love – Matthew A. Cherry, 48 Seiten, Mentor Verlag

 


 

A Bit Of Previous

 

 

Nach sieben Jahren gibt es endlich ein neues Album von Belle and Sebastian. Eleganter britischer Pop vom feinsten. „Souveräne Wiedergeburt“ schrieb der Rolling Stone über das neue Album. Die Band gibt es jetzt schon seit 26 Jahren und ich bin immer wieder begeistert. Ich bin dem Sozialprogramm für Arbeitslose der Stadt Glasgow immer noch dankbar, dass sie den Bandmitgliedern damals vertraute und die schottischen Musiker förderte. Es lebe der Sozialstaat. Es lebe die gute Musik. Es lebe Belle and Sebastian. Cheers.

 A Bit Of Previous – Belle and Sebastian, verfügbar auf Spotify und Apple Music

 


 

Die Pflegionärin

 

 

Frage an die ARD: „Warum strahlt ihr im Ersten immer dämliche Arztserien aus und warum versteckt ihr wirklich gute Arztserien in euren Mediatheken?“ Die MDR-Miniserie „Die Pflegionärin“ gehört ins Hauptabendprogramm, damit jeder mal mitbekommt, wie der Pflegenotstand in Deutschland aussieht. Die Episoden sind etwa zehn Minuten lang und schildern den Arbeitsalltag von Caro (Benita Sarah Bailey), die eine mobile Pflegekraft ist. Unter Zeitdruck muss sie ihre Patienten versorgen. Sie erlebt dabei lustige und traurige Momente, aber behält dabei immer ihre gute Laune. Wunderbar besetzt u. a. mit Iris Berben, Tobias Schlegl und Carolin Walter. Die Episoden könnten gerne länger sein.

Die Pflegionärin –verfügbar auf der MDR Mediathek

 


 

Von Mao zu Bach

 

 

Die aktuellen Nachrichten aus China über den Umgang mit der Corona Pandemie überraschen mich nicht. Die Volksrepublik war und ist eine üble Diktatur. Ein Blick in die Vergangenheit hilft, die Gegenwart zu verstehen. Zhu Xiao-Mei beschreibt in ihrem Buch ihre Jahre als talentierte Pianistin während und nach der Kulturrevolution. Eine Rotgardistin denunziert sie, weil sie das Klavierspielen von westlicher klassischer Musik als bourgeoise und dekadent hält. Xiao-Mei kommt in ein Umerziehungslager nahe der Mongolei. Bis sie eine gefeierte Pianistin von Bach Werken wird, muss sie einen langen Weg zurücklegen, aber sie schafft ihn. Ein Schicksal, das mich berührt hat. Nebenbei habe ich noch etwas über Bach und Ausdauer gelernt. Sehr empfehlenswert.

Von Mao zu Bach – Wie ich die Kulturrevolution überlebte, Zhu Xiao-Mei, Kunstmann Verlag, 286 Seiten

 

*** 

Draußen beginnt der Sommer. Du weißt das. Und trotzdem hast du dir die Zeit genommen, mein Lost & Found zu lesen. Danke. Ich schätze das sehr. Aber jetzt lass dich nicht weiter aufhalten. Vielleicht sehen wir uns im Juli wieder. Ich würde mich freuen. Bis bald und hab eine schöne Zeit.


 

Knuth Kung Shing Stein ist Gründungsmitglied von SoSUE und unterstützt noch weitere Marken als PR Berater und Content Curator. Er selbst beschreibt seine Arbeit als „irgendwas mit Medien“. Der Hamburger würde am liebsten auf einen Berg mit Strand ziehen. Mehr über Knuth erfahrt ihr auf seiner Website Collideor and Scope.


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