Am 6. Juli ist Weltkusstag. Küssen löst im Hirn und Herz komische Reaktionen aus, die von „Durchbrennen“ bis „Kuss-Hangover“ reichen. Unsere Autorin Stefanie Wilke hat sich so ihre Gedanken gemacht, wenn 30 Gesichtsmuskeln mit Knutschen beschäftigt sind. Ihre Lippenbekenntnisse könnt ihr hier jetzt lesen. Wer danach zur Tat schreiten möchte, nur zu: Küssen macht gute Laune. Viel Spaß.
Von Stefanie Wilke
Er küsste mich um Mitternacht vor einem Hotel, so zart, dass ich am nächsten Morgen dachte, es nur geträumt zu haben. Als er mich das nächste Mal küsste, war es in einem Hotelzimmer und seine Küsse schmeckten nach Meer und Champagner. Sie waren jetzt auch nicht mehr zaghaft und vorsichtig, sondern voller Leidenschaft und Verlangen. Er küsste mich so stürmisch, dass ich gar nicht merkte, wie er mich entblätterte und ich plötzlich in Schiesser Feinripp vor ihm stand. Zeit und Raum existierten nicht mehr – nur er und ich in diesem Hotelzimmer. Es überraschte mich, wie sehr ich ihn wollte, wie sehr ich seine fordernden Küsse genoss und was sie mir alles in diesem Moment versprachen.
Kann ein Kuss ein ganzes Leben verändern?
Ich weiß es nicht, aber er kann einen aus der Bahn werfen.Die nächsten Tage in diesem Hotelzimmer verbrachten wir wie im Rausch und seine Küsse wurden routinierter, verlockender und schmeckten jetzt nach einer Mischung aus Zahnpasta und schwerem Rotwein. Es war, als ob die Bewegung seiner Zunge den Takt für unser Liebesspiel vorgab. Es machte süchtig und weckte Sehnsüchte. Früher, als wir noch jung und ungebunden waren, wäre unsere Begegnung der Beginn einer Beziehung gewesen. Aber jetzt reisten wir mit Gepäck, es war kompliziert.
So küssten wir uns jedes Mal, wenn wir uns sahen, als ob es das letzte Mal wäre, und trafen uns weiterhin in irgendwelchen Hotelzimmern. Seine Küsse wurden immer vertrauter, unser Liebesspiel intensiver. Er sagte, er wolle keine Affäre. Wie aber soll man etwas betiteln, was von solch tiefen Gefühlen und Verständnis füreinander geprägt ist? Ich habe versucht mich dagegen zu wehren, habe versucht, es runterzuspielen, dass diese Küsse nur meine mehr als 100 Milliarden Nervenzellen anregen, Oxytocin, Adrenalin und Serotonin ausschütten würden.
Jedes Mal, wenn wir uns küssten, entspannten sich meine Gesichtsmuskeln und wir tauschten 4000 Bakterien von Mund zu Mund aus. Es passte wie „Arsch auf Eimer“ mit uns. Wir sprachen mit unseren Küssen, es war wie eine Geheimsprache zwischen uns. Sie signalisierten, wo es langgehen sollte, welche Bedürfnisse wir hatten und was wir füreinander empfanden. Mehr brauchte es nicht.
Der Rekordkuss liegt bei 58,5 Stunden und ich hätte mir locker vorstellen können, mit diesem Mann in dieser ersten Nacht und an diesem Ort sämtliche Kuss-Rekorde zu brechen – so schön war es.
Meine Hormone schalteten auf frisch verliebt um, und wie das im Leben nun mal ist, sollte dieser Zustand doch bitte für immer bleiben. Wir schufen uns kleine Oasen der Glückseligkeit, verhakelten unsere Körper ineinander, erkundeten unsere Lust und genossen die Wärme, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Es war, wie ein kurzer, heftiger Drogenrausch. Plötzlich sprach er von Liebe und das er mehr wollte, leider auch Kontrolle und so wurde es kompliziert.
Ich glaube, es liegt in der Natur der Sache, wenn der erste Liebestaumel vorbei ist, die Chance zu einer tieferen Bindung besteht. Aus Gefühlen werden Gedanken, die sich synchronisieren wollen und irgendwann schaltet sich auch wieder das Gehirn ein. Was, wie, wo kann das funktionieren, kann dieser Kuss-Rausch mich wirklich in ein neues Leben führen? Mein Kuss-Connaisseur wollte alles sofort oder gar nichts, er verstrickte und versteckte sich. Vor allem aber hatte er Angst die Kontrolle zu verlieren. Plötzlich schmeckten seine Küsse bitter und nach Schmerz und Zweifeln. Er suchte Zuflucht und Ersatz in neuen Projekten und in dem sicheren Hafen einer langwierigen Ehe, die trotz fehlender Liebe und abgeschliffenen Kanten für ihn berechenbarer blieb.
Noch immer spüre ich seinen Geschmack auf meiner Zunge, fühle den Schmelz seiner zarten Lippen und das leichte Kratzen seiner Zähne in meinem Mund. Es erstaunt mich, wie lange sich dieser „Bakterienaustausch“ in meinem System hält, meine Seele durchdringt und in meinem Träumen weiterlebt. Ist es nicht so, dass wenn man solch starken Gefühle unterdrückt, sie sich immer wieder Wege suchen, an die Oberfläche zu kommen?
Ich bin dankbar für diese Küsse, was ich gespürt habe und sie mir gezeigt haben. Ich habe für mich gelernt, dass ein Kuss nicht nur ein Kuss ist und dass der Moment der Glückseligkeit flüchtig ist. Dass ein Kuss ein Leben verändern kann, aber nicht muss und daSs ein Kuss, der so heftig und leidenschaftlich ist, niemals freundschaftlich-brüderlich werden kann. Der Kuss hat spricht seine eigene Wahrheit.
ABOUT STEFANIE:
Die Autorin Stefanie Wilke ist 1964 auf Sylt geboren, dort war es damals ganz schön wild. Sie ist am Strand unter Piraten aufgewachsen. Heute lebt sie in Hamburg und hat Magazine wie AMICA, Allegra, Emotion und enorm mit Ideen und Texten begleitet. Aktuell arbeitet sie als Texterin in einer Agentur. Das Schreiben über Psychologie und die Liebe zählt zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.