Karina Lübke dachte als Kind, Erwachsensein bedeute morgens Kaffee zu trinken, abends Alkohol, und selber zu entscheiden, wann man ins Bett muss. Heute hält sie Wasser für das erwachsenste Getränk und träumt davon, früh schlafen zu gehen. Ein paar Gedanken über das Erwachsensein und Erwachsenwerden.
Von Karina Lübke
Ich bin schon seit Jahrzehnten groß, aber nie so erwachsen gewesen, einen schultoilettenpapiergrauen Brief vom Finanzamt sofort zu öffnen. Routiniert lege ich ihn hinten links in der Kommodenschublade ab und hoffe, er würde sich unbesehen von selber fristgerecht erledigen. Sollte es etwas Wichtiges sein, käme eh eine Mahnung. Ja, natürlich ist dieses Verhalten kindisch! Nach kurzer Erleichterung schäme ich mich dann auch altersgemäß. Muss ich mich immer wieder fühlen wie eine Lebenskompetenz-Hochstaplerin? Würde ich je das Ideal einer echten Erwachsenen verkörpern, die ohne zu Heulen, effizient - ja, sogar mit Freude! - die besten Internetanbieter, Tarife und Ferienhäuser organisiert, Verträge vor dem Abschluss erst komplett durchliest, Vorsorgetermine ausmacht und sogar hingeht, per App gewinnbringend ihre Konten und ETF Fonds managed? Leider bringt einem das keiner rechtzeitig bei: Nicht für das Leben, für die Schule lernten wir.
Nein, früher war vielleicht nicht alles besser, aber das Erwachsenwerden geschah zwangsläufiger. Es war noch kein Lifestyle, der beliebig wähl- oder abwählbar war, sondern eine natürliche Weiterentwicklung der biologischen Adoleszenz. Gesiezt zu werden galt als soziales Statussymbol, Make-up sollte einen nicht jünger, sondern älter wirken lassen. Spätestens mit 21 gab es kein Zurück mehr, bis man so alt war, dass man wieder kindisch wurde. Für seinen Lebensweg bekam der junge Erwachsene als Gehhilfe immerhin noch feste Rollenbilder und überprüfbare Entwicklungsstufen: Ausbildung, Festanstellung, Bausparvertrag, Auto, Heirat, Wohnung, Kinder, Eigenheim, Rente. Profis halfen einem, die Verantwortung mitzutragen - der Sparkassenangestellte erledigte das Banking, die Post den Telefonanschluss. Man musste nicht alles selber entscheiden, tun und wissen. Erwachsen zu sein war zwar ein extrem statischer Status, aber einer mit vielen Sicherheiten.
Heute dagegen scheint es etwas, das man lernen und permanent praktizieren muss, wie Yoga: Kann man machen - muss man aber nicht. Ein lebenslanges Zweitstudium mit ständig wechselnden und steigenden An- und Herausforderungen der digitalen Moderne. Die Wiener Psychotherapeutin Katja Gley bestätigt: „Ein Grund, warum junge Menschen heute nicht gerne erwachsen werden oder sogar ein regressives Verhalten an den Tag legen, ist, dass es keine linearen Biografien und Rollenmuster mehr gibt. Nichts ist mehr vorgezeichnet, etwa, dass man als Mann Familienernährer und als Frau Mutter werden muss, weil es die Gesellschaft so vorschreibt. Das ermöglicht große Freiheit – aber die macht auch Angst. Diese Angst vor „welcher Mensch bin ich, wie will ich sein“ führt dazu, dass in der Pubertät die normale Trennungsaggression verhindert wird, die man braucht, um sich von den Eltern abzunabeln“.
"Denn Erwachsensein ist schön, macht aber irre viel Arbeit."
Denn Erwachsensein ist schön, macht aber irre viel Arbeit. Die Amerikaner haben dafür das unübersetzbare Verb „adulting“ (von adult, erwachsen) und es ist etwas, was man bewusst tut, statt es einfach altersgemäß zu sein oder sich zumindest so zu benehmen. Auf Social Media ist #adulting ein beliebter hashtag: „I adulted so hard!“ bedeutet da beispielsweise, sich Essen selber gekocht zu haben, statt einen Snack zu kaufen. Oder eine eigene Wohnung zu mieten und sogar die Miete dafür selber zu zahlen. Sein Bett zu machen, sein Bad zu putzen. Sich eben für sein Leben verantwortlich zu fühlen, statt einfach einen Stall voller Sündenböcke an sein inneres Kinderzimmer anzubauen.
Kinder werden dank besserer Ernährung und Lebensumstände zwar früher geschlechtsreif, aber viel später erwachsen als ihre Eltern und Großeltern. Nicht mehr die offizielle Volljährigkeit ist das Blind Date mit dem Ernst des Lebens: Umfragen zufolge fühlen sich die heutigen Millenials weltweit erst so um die 25 so „richtig erwachsen“, fand 2018 auch ein australisches Forscherteam um die Wissenschaftlerin Susan Sawyer heraus. Der Hauptgrund liegt darin, dass das Gehirn und besonders die Entwicklung des präfrontalen Kortex erst nach rund 25 Jahren wirklich abgeschlossen ist. Der spielt eine wichtige Rolle für soziale Entscheidungsprozesse und die Ich-Entwicklung, was entscheidend für unser Handeln und Verhalten ist - und damit das wichtigste Merkmal, um einen Menschen als „erwachsen“ zu bezeichnen. Dementsprechend heiraten junge Menschen heute später, ziehen später aus dem Elternhaus aus, gründen später eigene Familien als vorherige Generationen.
Sie haben aber auch immer weniger Gründe dafür. Ich ersehnte das Erwachsensein einst als Möglichkeit ultimativer Selbstbestimmung, aber ich hatte zuhause auch nicht die Freiheiten, die Teenager heute normal finden. Kaum einer muss noch abhauen, um heimlich herumzuknutschen oder Sex zu haben: „Bring sie/ihn doch mit, Schatz! Ich mache euch morgens auch ein schönes Frühstück". Parties, Filmabende oder spontane Übernachtungen von Freunden? Machbar! Und klar kriegen Kinder dafür die schönsten Zimmer, größer als die einst als kindgerecht erachteten 12 Quadratmeter. Da passten dann auch nur ein Schreibtisch und ein Einzelbett hinein, oft wurde noch das von Bruder oder Schwester aufgestockt. Wer mehr körperliche und geistige Intimsphäre wollte, musste schon ausziehen. Doch wer mag sich in der unsicheren Welt von heute freiwillig die Verantwortung für einen eigenen Haushalt und Internetprovider aufladen, wenn man das Beste am Erwachsensein bequemerweise längst gratis genießt?
"Im echten Leben ist es deshalb das Langweiligste und Nervigste, ein Mensch zu sein, der nie erwachsen werden will"
Außerdem hat Erwachsensein ein massives Imageproblem. Bei dem Jugendkult von heute wird es gleichgesetzt mit alt, ahnungslos, unsexy und langweilig. Auf dem Dating- wie dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar. „Werd´ nicht erwachsen, das ist eine Falle“ ist ein heissgeliktes Meme. Die Spaßgeneration fürchtet, „vernünftig“ wäre synonym für „erwachsen“: Die Erwachsene hat immer ein Taschentuch dabei. Nimmt auf Ausflüge Äpfel, Brote und hartgekochte Eier mit, statt am Wegesrand irgendwas Fettiges zu kaufen. Ersteht „vernünftige“ funktionale Schuhe und Jacken. Igitt! Dann lieber Vorbildern wie Pippi Langstrumpf und Peter Pan nacheifern, die nie erwachsen werden wollten. Aber die mussten auch kein Geld verdienen. Im echten Leben ist es deshalb das Langweiligste und Nervigste, ein Mensch zu sein, der nie erwachsen werden will - vor allem für seine Mitmenschen. „Werd´ erwachsen!“ schreien Frauen Männer an, die es mal wieder „nicht geschafft“ haben, die Küche aufzuräumen oder das Kind aus der Kita abzuholen. Nicht forever young, sondern ewig kindisch.
Die Wiener Psychotherapeutin Katja Beran erläutert: „Nicht das Alter, sondern die Übernahme von Selbstverantwortung ist ein wesentlicher Marker für erwachsenes Verhalten. Trotzen, Schmollen, sich tobend auf den Boden zu werfen, die Schuld an eigenem Fehlverhalten den anderen zu geben, assoziieren wir zurecht mit Unreife“. Typisch unerwachsen wäre auch, beziehungstechnisch in Kindheitsmustern sitzenzubleiben, statt eigene erwachsene Rollenbilder zu entwickeln: „Etwa ewig Papas Prinzessin, die umsorgt und idealisiert werden will, und sich gekränkt zurückzieht, wenn das irgendwann nicht mehr funktioniert.“
Wann ist man also zumindest erwachsen genug? Wenn man aus dem Elternhaus ausgezogen ist? Eigenes Geld verdient? Wenn man selber Mutter wird? Oder die Eltern sterben, und keine Generation mehr zwischen der eigenen und dem Tod Wache steht? Wenn man statistisch mehr Jahre hinter sich hat, als vor sich? Oder reicht schon die mittlere menschliche Reife, das man unspaßige Sachen tut, weil die eben getan werden müssen und man es kann? Als Kind war ich sicher, dass Erwachsene den großen Plan hätten, die magische Bewanderkarte mit sämtlichen Geheimpfaden durch die Krisengebiete des Lebens. Und ahne nun: Nicht einmal das stimmt. Das Leben ist so unsicher wie die Rente und Erwachsensein ist kein offizieller Abschluss der Kindheit, so wie man irgendwann die Schule mit einem Zeugnis abgeschlossen hat. Wir alle sind oft planlose Teilzeit-Alterweise, die trotzdem tapfer Tag für Tag aufstehen und ihren Job als Erwachsene machen, oft ohne je die richtige Qualifikation dafür zu haben. Die meisten bringen es in dem Job nur zur ewigen Praktikantin, aber hey, hatte man sich überhaupt dafür beworben?
Die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello aus Bern hat zu den mittleren Lebensjahren geforscht: „Wissenschaftlich war die Lebensmitte bis vor wenigen Jahrzehnten eine Blackbox, man hielt das Erwachsenenalter in Bezug auf das Entwicklungspotenzial für ein Plateau der Ereignislosigkeit“. Noch vor hundert Jahren wären die Menschen im Durchschnitt 48 Jahre alt geworden, da habe man nur zwischen Jung und Alt unterschieden. Heute bleibt einem im Mittelalter noch viel Zeit für Weiterentwicklung und Selbstreflektion. Das ist ein kostbares Geschenk. Es heißt nun für mich, sich immer mehr die Deutungshohheit über die eigene Persönlichkeit und Lebensgeschichte zurückzuholen. Sich ihrer bewusst zu werden und dann herauszuwachsen aus den Konditionierungen der Kindheit und den Erwartungen anderer. Ich bin so frei, Liebe nicht mehr mit Bedürftigkeit, Sehnsucht nach Sicherheit oder der Angst vor dem Alleinsein zu verwechseln. Erfahren und erwachsen genug, mich wichtig, aber nie zu ernst zu nehmen. Selbstbestimmtheit wächst einem nicht mit den Jahren einfach zu; die muss man sich erleben und erarbeiten. Mittlerweile denke ich sogar: Ja, ich bin erwachsen und das ist auch gut so! Zum Beispiel, weil einem keiner das Netflix-Serien-Bingewatching verbieten kann, die moderne Form vom „Fernsehen, bis man eckige Augen bekommt“. Und vor einiger Zeit war ich sogar erwachsen genug, eine noch erwachsenere Steuerberaterin engagiert zu haben, die meine Post vom Finanzamt für mich öffnet.
Karina studierte erst Design, machte ein Diplom in Mode und absolvierte dann bei Wolf Schneider die Hamburger Journalistenschule. Sie wurde anschliessend Redakteurin und Kolumnistin bei TEMPO und schrieb dann freiberuflich für einige Magazine. Ihre monatliche Kolumne "Bitte recht feindlich" in der Zeitschrift BARBARA hat eine große Fangemeinde und ist als Buch erschienen. Zwischendurch heiratete sie, zog eine Tochter und einen Sohn groß. Mehr erfahrt ihr hier.
Ihr neues Buch „Bitte recht feindlich“ ist jetzt im Buchhandel erhältlich. Es geht um Kerle und Kinder und kindische Kerle, um Politik, Gesellschaft, Geld und gute Worte. Und um Liebe – trotz allem. Dieses Buch fasst ihre besten Kolumnen aus der Zeitschrift BARBARA zusammen und enthält neue, bisher unveröffentlichte Texte.