Die Autorin Alexa von Heyden (42) erzählt, wie sich ihr Haus am See während der Coronakrise zu einem Zufluchtsort für Familie und Freunde entwickelt hat.
„Echt jetzt?!“ Meine Freundinnen waren entsetzt, als mein Mann und ich vor drei Jahren verkündeten, dass wir mit unserem 6 Monate alten Kind vom begehrten Prenzlauer Berg raus nach Brandenburg ziehen. Ein Leben ohne Yoga-Studio, pochierte Eier und die Gelegenheit innerhalb weniger Straßenbahn-Stationen einen luxuriösen Konsumtempel betreten zu können, war für sie unvorstellbar. Für mich auch. Aber da saß ich nun: Mit meiner kleinen Tochter in der Trage vor meinen Bauch geschnallt, inmitten zahlloser Umzugskarton in einem extrem renovierungsbedürftigen, aber vergleichsweise noch bezahlbaren Eigenheim mit Blick auf den See, ohne ein einziges Café, Designer-Boutique oder Späti in Laufnähe. Ich fing an zu heulen.
Als meine Tränen getrocknet waren, setzte meine Verwandlung ein: Ich entwuchs der Berliner Blogger-Blase, einer abstrakten Welt, die durch das ständige Vergleichen mit anderen Frauen meine persönliche Entwicklung lähmte, hinein in eine schnuckelige Nachbarschaft, in der es weniger eine Rolle spielt, was für einen Job ich gerade an Land gezogen habe (versteht eh keiner und wenn dann finden die Leute meinen Selbstdarstellung peinlich), sondern viel interessanter ist, welche Malvensorte in meinem Garten gedeiht oder was ich aus den Pflaumen am Baum mache: Kuchen oder Kompott?
Ich war ständig draußen und lernte nicht nur mit den Jahreszeiten zu leben, sondern entwickelte mich zur Renovierungsexpertin, die einen Bohrhammer genau so elegant halten kann wie eine Clutch. Wände einzureißen war mein persönlicher Moment des Empowerments. Derweil sah ich zu, wie meine Tochter durch die Landluft und den Kontakt zu ihren Großeltern zu einem mutigen und selbstbewussten Kind heranwuchs, das die meisten Pflanzen und Tiere in seiner Umgebung kennt und im Sommer juchzend in den See springt.
Als der erste Corona-Lockdown im März kam, begriff ich, dass wir genau zur richtigen Zeit den Umzug gewagt hatten. Anders als meine Freunde, die mit ihren Kindern eingeschlossen in ihren zugegebenermaßen zwar sehr geschmackvollen, aber plötzlich doch ziemlich beengten Altbauwohnungen hockten, öffnete ich die Tür zur Terrasse und schickte mein Kind in den Garten, damit es sich auf dem Trampolin austoben oder im Kräuterbeet ein paar Schnittlauchhalme für das Mittagessen abrupfen konnte. Wir drehten eine Runde mit dem Laufrad um den See und trafen: niemanden. Wir wanderten durch den Wald und waren immer noch alleine. Social Distancing fiel uns nicht schwer. Die wenigen Einschränkungen, die wir hatten waren eine geschlossene Kita und dass die Omas nicht zu Besuch kamen. Und natürlich gab es auch hier auf dem Dorf kein Klopapier mehr. Aber meine Tochter kackt sowieso am liebsten in den Garten.
Unser Haus am See ist seit der Coronapandemie vielmehr als nur unsere Altersvorsorge und das zukünftige Erbe unseres Kindes. Die Villa Peng ist zu einem Retreat für meine Familie und Freunde geworden. Denn kaum war der Lockdown vorbei, klingelte mein Handy und es kamen SMS: „Hey, was macht ihr am Wochenende?“ Die Berliner wollten alle plötzlich zu uns „raus“ an den See. Am Anfang war nur ein Kaffee geplant; ich legte trotzdem das Bettzeug bereit. Denn ich wollte unser Privileg, das wir hier haben, nicht nur auf Instagram teilen.
Meine Freunde kamen mit dem Zug oder dem Auto; es dauert nur eine Stunde vom Hauptbahnhof und viele fragten sich bei der Ankunft, warum sie nicht schon früher gekommen seien – innerhalb von Berlin sei man doch auch schließlich oft von Tür zu Tür eine Stunde unterwegs. Sie wirkten müde, niedergeschlagen und waren blass. Wir tranken den verabredeten Kaffee, dann liefen wir barfuß durch den Garten, pflückten die süßen Kirschen von den Bäumen und gingen schwimmen. Meine Freundin S. kam auf dem SUP stundenlang nicht wieder, weil sie in der Mitte des Sees ihre wiedergewonnene Freiheit zelebrierte. Ich sah vom Ufer, wie sie auf dem Brett lag, sich von den Wellen treiben ließ und in den Himmel schaute. Es wurde zum Ritual, das viele Besucher wiederholten. Oder sie fischten sich aus dem Schuppen ein Gartengerät und fingen an in der Erde zu wühlen. Es wurde Abend, wir grillten Würstchen, schnibbelten Rote Bete und tranken Bier aus der Flasche. Wir redeten ehrlich über das, was uns Sorgen macht, frustriert und verzweifeln lässt. Auch mich auf dem Land. Manche Tränen floß und sorgte dafür, dass ein Stück von dem monatelangen Stress, der in unser aller Knochen sitzt, abfiel. Die herzliche Ehrlichkeit unserer Gespräche ersetze die fehlende Umarmung.
So wie S. blieben viele Besucher spontan über Nacht, verlängerten um eine weitere Übernachtung oder kamen an einem der nächsten Wochenende wieder. Als im Sommer viele Freunde ihren Urlaub nicht im Ausland verbringen wollten, kamen sie zu uns, auch meine Geschwister mit ihren Kindern. Die einen schliefen im Haus, die anderen mit einem Wohnwagen oder Zelt unter den Haselnussbäumen im Garten, wenn nicht sogar einfach unter dem Sternenhimmel auf der Terrasse. An manchen Wochenende hatten wir so viele Übernachtungsanfragen, dass ich einigen absagen musste.
Inzwischen ist der Sommer vorbei, aber die Besucher kommen immer noch. So lange es noch erlaubt ist. Wir laufen zusammen durch den Wald, sammeln Maronen, Stein- und Butterpilze und suchen die Spuren des Wolfes, der auf den Wiesen zwischen den Dörfern umherstreift. Als meine Freundin S. wieder gen Berlin fuhr, sagte sie zum Abschied: „Danke, dass ich mal wieder Ich sein durfte.“ Genau das ist der Sex-Appeal der Villa Peng, auch wenn man auf dem Land so manchen kulturellen oder kulinarischen Kompromiss finden muss: Man lernt es mit sich selbst auszuhalten und stellt erleichtert fest, dass es nicht unbedingt eine Bottega Veneta Tasche am Arm, 10-Gänge-Austern-Menü in einem angesagten Restaurant oder neonpink-beleuchteten Fiberglas-Spiegel im Flur braucht, um als Mensch ein Gefühl von Glück zu empfinden. Es funktioniert auch mit Dreck unter den Fingernägeln.
PS: Unser nächstes Renovierungs-Projekt in der Villa Peng wird die alte Scheune. Wir wollen 2021 ein Bed & Breakfast eröffnen, damit der Traum vom Landleben für noch mehr Menschen um uns herum erlebbar wird. Wir freuen uns schon!