SoSUE Redakteur Knuth besuchte in den Achtzigern die DDR. Eine Erinnerung über schreckliche Grenzübergänge.
„Geh doch nach drüben, wenn es dir hier nicht gefällt!“, schimpfte der Mann. Als er mein Flugblatt für eine Friedensdemonstration las. „Das werde ich“, antworte ich ihm. Es waren die Achtziger, ich war Schüler und es herrschte noch der Kalte Krieg.
Drüben, das war für uns Westdeutsche die DDR. Drüben stand für Unrecht und Unterdrückung. Ich wusste das. Trotzdem nutze ich die Einladung meiner Tante, die in Rostock lebte, für einen Besuch. Ich war neugierig und freute mich, meine Verwandten zu sehen. Im Frühjahr 1986 fuhr ich mit dem Zug nach drüben.
In meinem Abteil waren DDR-Rentner, die ihre Angehörigen im Westen besucht hatten. Sie wirkten ängstlich und waren mir gegenüber vorsichtig. Nach der Abfahrt aus Hamburg wurde ich von ihnen ausgefragt. Ihre Sorge war, dass sie meinetwegen Ärger an der Grenze bekommen könnten. Ich beruhigte sie. Ich hatte keine westlichen Magazine in meinem Koffer und meine Gastgeschenke entsprachen den Vorschriften. Die wenigen Gespräche drehten sich über die vollen Regalen, der tollen Mode, die modernen Städte und den Autos im Westen. Eine Frau bedauerte, dass sie keinen Otto Katalog mitnehmen durfte.
Die innerdeutsche Grenze kam näher, ich spürte, wie die Anspannung zunahm. Die Frau, die eben noch bedauerte, dass sie keinen Otto Katalog mitnehmen durfte, begann an zu zittern. Ein Mann wies mich an, dass ich bitte den Anweisungen der „Grenzer“ folgen sollte.
Der Grenzbahnhof Schwanheide war mein erster Halt drüben. Die DDR empfing mich mit dem ganzen Charme einer Diktatur. Es war eine Art Hochsicherheitstrakt für Züge mit Wachtürmen, Stacheldraht, Zäunen, Schäferhunden und Grenzsoldaten. In ihren Uniformen sahen die selbst ernannten Antifaschisten selbst aus wie Faschisten. Das Kommando-Deutsch verstärkte bei mir diesen Eindruck. Wir mussten unser Abteil verlassen, weil es durchsucht wurde. Ein Soldat im Trenchcoat, der nach Bohnerwachs roch, überprüfte auf einem umgeschnallten Miniklappschreibtisch vor seinem Bauch meinen Pass. Er freute sich über meinen chinesischen Namen, so etwas, habe er nicht häufig.
Es war deprimierend. Einen Tag, den ich nicht vergessen werde. Das Haifischlächeln der Soldaten machte es nicht besser. Wir fuhren weiter. Es war still in meinem Abteil.
Ich blieb ein paar Tage bei meiner Tante und Onkel in Rostock. Ich war auf Versammlungen, stellte mich für meine Tante in Warteschlangen an, kaufte in Intershops Westware, feierte in Datschen, ging in Konsummärkte, schaute mit ihnen zusammen Westfernsehen und machte Ausflüge an die Ostsee. Der Mindestumtausch D-Mark gegen Ostmark bescherte mir ein kleines Vermögen. Trotzdem konnte ich mit meinem plötzlichen Ostmark-Reichtum nichts anfangen, weil es nichts zu kaufen gab. Die Läden waren leer, und mein Interesse an Kunsthandwerk aus den sozialistischen Bruderstaaten oder Häkeldecken hielt sich in Grenzen. Ich gab mein Geld für ein paar Bücher und klassische Schallplatten aus. So lernte ich Tolstoi und Bach kennen.
Bei meinen Spaziergängen gewöhnte ich mich an die Luft, die nach Ruß schmeckte. Die Straßen waren grau. Außerdem schien der Sozialismus etwas gegen bunte Farbe zu haben. Manche Häuser sahen aus, als wären sie die Kulisse für einen Kriegsfilm. Der Verfall war sichtbar.
Die Menschen waren verbittert. Sie fühlten sich von der Geschichte betrogen. Die Wessis lebten in Saus und Braus und sie mussten für alles büßen. Sie wollten offen ihre Meinung sagen. Sie wollten reisen. Sie wollten einfach Dinge kaufen. Sie wollten das Leben genießen. Sie wollten Freiheit. So wie wir Wessis. Obwohl sie wenig Hoffnung für die Zukunft hatten, versuchten sie sich mit dem System zu arrangieren. Im Alltag sah das oft so aus, dass meine Verwandten ständig etwas am Besorgen waren. Neben den vielen Problemen machte der Überwachungsstaat, den Menschen zu schaffen, sie wussten nicht, wer ein Stasi-Spitzel war und wer nicht. Selbst über mich wurden Informationen gesammelt. Jahre später erzählte meine Tante, dass nach meinem Besuch die Stasi bei ihr erschien, die interessierten sich für meinen Besuch und stellten Fragen zu meiner Person.
Meine Ausreise führte mich wieder über den Grenzbahnhof Schwanheide. Wieder teilte ich mein Abteil mit DDR-Rentner und die Anspannung war wieder sehr groß. Die Grenzsoldaten, die unser Abteil diesmal durchsuchten, waren noch genauer. Sie waren auf der Suche nach Republikflüchtlingen. Ihr Kommando-Deutsch schien mir lauter zu sein als bei meiner Einreise. Sie schraubten fast alles ab und leuchteten es aus. Ein Schäferhund schnüffelte zur Sicherheit auch noch rum. Es dauerte, bis der Zug weiterfuhr.
Wir ließen die Grenze hinter uns und waren wieder in der Bunderepublik. Wir waren alle erleichtert. Was für ein seltsames Land, dachte ich.
Eine Frau, die das erste Mal ausreiste, war über die Badewannen verwundert, die auf den Kuhweiden rumstanden und als Viehtränke dienten. Für sie war das ein Zeichen von Luxus. Sie erklärte mir, wie lange Menschen in der DDR auf eine Badewanne warten mussten, wenn es überhaupt mal welche gab. Ihre Sitznachbarin, die schon häufiger im Westen gewesen war, sagte ihr, das sei noch gar nichts, sie sollte sich mal die Kaufhäuser und Supermärkte anschauen. Es sei alles ganz anders als in der DDR. Hier drüben im Westen gab es wirklich alles. Drüben war für die Ostdeutsche der Westen und bedeutete Überfluss.
Die Mauer fiel wenige Jahre später. Ich freute mich sehr darüber, dass die DDR endlich Geschichte war. Es folgte die Deutsche Einheit. Ob wir tatsächlich wiedervereinigt sind, da habe ich meine Zweifel. Es gibt immer noch Drüben: das der Wessis und das der Ossis.