SoSUE Mann Knuth wurde in diesem Monat von allen Seiten vollgequatscht. Immer gab es was auf die Ohren. Es ging so weit, dass er auf TikTok nur noch Stummfilme ansah und vor jeder Sprachnachricht flüchtete. In seinem neuen Lost & Found hat er über eine fiktive Zukunft geschrieben, wo das Schweigen tatsächlich Goldwert ist. Weitere Tipps in seinem Monatsrückblick: Ein Buch über falsche Zitate, eine spannende Apple-Serie, die nichts für Vielflieger ist und ein neues Hip-Hop-Album mit viel Wut und Groove.
#OverVoice
September 2023 – „Das Wichtigste beim Sprechen ist nicht zu sprechen. Wer denkt, er könne etwas, ohne zu sagen zu Ende bringen, dann soll er das auch ohne Worte tun. Wenn man allerdings nicht ohne Worte auskommt, muss man mit wohlgesetzten und wenigen Worten sich vernünftig ausdrücken können. Ohne nachzudenken etwas zu sagen, bringt nur Schande, und man wird von seinen Mitmenschen gemieden.“ Jedes einzelne Wort wiederholten wir. Immer wieder. Es war das morgendliche Ritual an unserer Schule, bevor wir schweigend in unsere Klassen gingen. Die Worte stammen aus dem Hagakure, dem Ehrenkodex der Samurai. Es entstand im 18. Jahrhundert in Japan in der Endo-Zeit. Im Gegensatz zu 2023, als meine Mutter eingeschult wurde, reden wir heute miteinander viel weniger und schreiben dafür wieder viel mehr.
Es begann alles vor meiner Geburt. Im Jahr 2054 stellten viele Regierungen einen dringenden Handlungsbedarf fest, um die Audio-Pandemie in den Griff zu bekommen. Es gab ein hyperaktives Mitteilungs- und Hörbedürfnis. Die Menschen waren von ihren eigenen Worten und den Worten anderer derart berauscht und abgelenkt, dass es immer häufiger zu Fehlern, Unfällen und Katastrophen kam, die langsam den Wohlstand und die Demokratie der Staaten bedrohte. Ein altes Familienfoto beschreibt die damalige Situation sehr gut. Auf einem Spielplatz spielt meine vierjährige Mutter verträumt im Sandkasten, im Hintergrund stehen meine Oma und Opa. Beide tragen Kopfhörer und wirken sehr apathisch, als hätte sie Drogen genommen. Etwas länger betrachtet, stellte ich fest, dass alle Erwachsene auf dem Bild Kopfhörer aufhatten. Tatsächlich wurde früher viel mehr geredet, als es heute üblich ist: auf Instagram, YouTube, TikTok, im Fernsehen und Radio, auf WhatsApp, Alexa-Sprachassistenten unterhielten sich mit einem und es gab viele Podcasts zu jedem erdenklichen Thema. Jeder, ob er wollte oder nicht, war zum Zuhören gezwungen. Wer ein Gewinnertyp sein wollte, musste zu allem seinen Senf dazugeben. Das wurde in den Schulen gefördert, die Kinder sollten sich ständig präsentieren, um ihre mündliche Leistung weiter zu steigern. Ich kann es kaum glauben, aber Quatschköpfe galten am Anfang des 21. Jahrhundert als sehr attraktiv. Die erfolgreichsten unter ihnen nannten sich selbst Speaker. Es war schick, ein Speaker zu sein. Sie sprachen vor großem Publikum und meistens über sich selbst, dafür wurden sie lange gefeiert. Aus Neugier schaute ich mir alte Talkshows an. Sie waren sehr merkwürdig, keiner von den Gästen konnte sich mit wohlgesetzten und wenigen Worten vernünftig ausdrücken, wie es im Hagakure steht. Schüchterne Männer und Frauen hatten echte Probleme. Zurückhaltung galt als Schwäche. Schweigen war verpönt.
Ein Wissenschaftler analysierte die Situation, er meinte, das steinzeitliche Lagerfeuer, wo sich einst die Jäger und Sammler austauschten, sei mit der Einführung des Internets, zu einem galaktischen oralen Flächenbrand ausgeufert. Es gab Forschungen die belegten, dass Menschen immer mehr Worte verwendeten als die durchschnittlich 16.000 Worte am Tag und sie immer viel schneller sprachen. Die Wortanzahl pro Minute stieg jedes Jahr weiter an. Es war ein Hinhören als ein Zuhören. Keiner achtete mehr auf die Inhalte oder auf leise Zwischentöne, weil der gesamte Alltag von der Speisekarte bis zum Klingelschild vertont wurde.
Die Audio-Pandemie führte zu drei Hauptproblemen: rapiden Rückgang der Lesekompetenz in allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen, mentale Erschöpfung aufgrund anhaltender Beschallung und eine weitverbreitete Taubheit in der Bevölkerung. Außerdem führte das ständige Tragen von Kopfhörern zu neuartigen Zivilisationskrankheiten wie etwa Pilzerkrankungen in den Ohren, die durch In-Ear-Kopfhörer ausgelöst wurden oder chronischen Stimmbandentzündungen, dass bereits Jugendliche ein Kettenraucher-Timbre hatten. Mein Favorit aus der Zeit ist aber eine psychologische Erkrankung, die als Inner-Voice-Panic-Syndrom bezeichnet wird, weil Patienten Angst vor ihrer eigenen inneren Stimme hatten. Sie waren nicht mehr in der Lage, mit sich selbst zu sprechen. Erst neue Neuro-Apps boten Abhilfe, indem sie die innere Stimme in eine Stimme umwandelten, die den Betroffenen aus Podcasts, Netflix-Serien oder Reels vertraut war.
Einmal fragte ich meine Mutter, wie sie die Zeit als Kind empfand.
„Deine Großeltern haben sich ganz schön vollquatschen lassen und selber konnten sie ihren Mund auch nicht halten. Zu allem hatten sie eine Meinung. Sie wurden von Tag zu Tag hysterischer“, sagte sie.
„Und welches Gerede war für dich am schlimmsten?“
„Am schlimmsten waren die Whatsapp-Sprachnachrichten von deiner Oma. Ich bekam schon früh ein Handy. Manchmal waren es bis zum Unterrichtsende über 15 Stück. Mach dies Emilia, denke an dieses Emilia, vergiss jenes nicht. Ich mochte sie nicht, weil ich nicht direkt, wie in einem Gespräch antworten konnte. Sie ließen mich hilflos zurück. Es wurde erst weniger, als ich deinen Vater geheiratet habe.“
Jetzt im Jahr 2079, ist weniger zu sprechen und möglichst sparsam seine Worte einzusetzen, nicht nur eine Mode, es gehört mittlerweile zum guten Ton. Sprachnachrichten sind jetzt ganz verboten. Für Podcasts gibt es eine Art Wort-Ampel, damit Hörer unterscheiden können, ob es sich um Blabla (rot) oder wirklich qualitative gute Beiträge (grün) handelt. Youtuber und Influencer müssen die Hälfte ihrer Inhalte jetzt als Texte veröffentlichen. In Talkshows wird streng über die Qualität der Wortbeiträge gewacht, wer nur plappert, fliegt raus. Unternehmen wurden dazu verpflichtet, keine Speaker-Events mehr zu unterstützen oder zu organisieren. Heute werden auf internationalen Konferenzen und in den Führungsetagen nur noch Memos gelesen. Und einige Länder haben Schweigetage eingeführt. In Finnland gibt es sogar ein Recht auf Schweigen. Einfach still sein und mal die Klappe halten, konnte sich damals keiner mehr vorstellen. Wenn ich heute darüber nachdenke, fehlen mir immer noch die Worte.
Toubab
Der 25-jährigen Babtou (Farba Dieng) bekommt seine Ausweisungsurkunde. Die Behörden wollen den Kleinkriminellen unbedingt loswerden. Sein Problem, er war noch nie in seinem Leben im Senegal, weil er in Deutschland aufgewachsen ist. Ganz unschuldig ist er an der Situation nicht. Seine Haftentlassung endete in einem Chaos, aber ihn deswegen gleich aus dem Land zu werfen, das sieht er nicht ein. Sein Kumpel Dennis (Julius Nitschkoff) und er haben eine Idee: Er braucht eine deutsche Ehefrau, dann könnte er bleiben. Aber das klappt nicht. Also beschließen die beiden, ein schwules Paar zu spielen und heiraten. Ihr Aktionismus löst eine Kette von Missverständnissen und Verwirrungen aus, die sehr komisch sind. Die beiden Underdogs haben mich richtig begeistert.
Toubab – Verfügbar in der ZDF-Mediathek
Die besten falschesten Zitate aller Zeiten
Das Internet ist überfüllt mit Sprüchen und Zitaten von historischen Persönlichkeiten, besonders beliebt sind sie auf Instagram als Statement-Post. Kein Coach, Promi oder Politiker mag darauf verzichten. Das Komische daran ist, dass vieles davon Heilige, Politiker, Schauspieler oder Künstler nie gesagt haben. Es wurde ihnen einfach in den Mund gelegt. Weisheiten aus Asien stammen fast immer von Konfuzius oder Laotse. Kluge Frechheiten werden gerne Mark Twain oder Karl Valentin zugeschrieben. Ein Beispiel: „Wer Versionen hat, sollte zum Arzt gehen.“, diesen Satz hat Altkanzler Helmut Schmidt niemals gesagt. Gerald Krieghofer ist Philosoph und Literaturwissenschaftler, er betreibt einen Blog, wo er falsche Zitate und Kuckkucksziate nachweist. Es ist interessant, wie sich die falschen Zitate verbreiten oder Geistesgrößen zugeschrieben werden. Also bevor ihr euch ein Zitat als Wandtattoo aussucht oder mit einem klugen Ausspruch eine Rede beginnen wollt, bitte vorher sein Buch lesen. Lohnt!
Die besten falschesten Zitate aller Zeiten, Gerald Krieghofer, 176 Seiten, Molden
Sundial
"Einer der bedeutendsten Fehler, den wir meiner Meinung nach in unserem Streben nach Freiheit in diesem Land begangen haben, besteht darin, dem weißen Amerika ungehinderten Zugang zu unserer gesamten kulturellen Vielfalt zu gewähren", teilte NoName auf Instgram mit. Ursprünglich wollte die 31-jährige Rapperin aus Chicago nie wieder Musik veröffentlichen. Gott sei Dank hat sie ihre Entscheidung revidiert. Mit ihrem "Conscious Rap", also authentischer und bewusster Rap, knöpft sie sich Obama, Disney und Beyonce vor. Für einige Musikkritiker ist „Sundial“ das beste Rap-Album des Jahres. Kann ich nicht sagen, dafür höre ich zu wenig Hip-Hop. Für mich ist ihr Album nur cooler Elektro-Jazz-Bossa-Nova-Groove mit guten Lines. Von Melancholie bis Wut ist alles dabei.
Sundial – Noname verfügbar auf Apple Music und Spotify
Hijack
Die Serie wollte ich schon länger vorstellen, aber ich habe abgewartet, bis wieder alle aus dem Urlaub zurück sind, obwohl ich den Eindruck habe, dass die Menschen nichts anderes mehr tun als Reisen, als seien sie auf der Flucht. Das gilt auch für den Unternehmensberater Sam Nelson (Idris Elba), der als Verhandlungsspezialist für Firmen weltweit Deals eintütet. Er will nur noch zurück nach London, um seine kaputte Ehe zu retten. Rechtzeitig schafft er seinen Flieger. Und während in der Businessclass die BWL-Bernds und Jura-Johannas herausbekommen möchten, was Sam so treibt, registriert er aus dem Augenwinkel heraus, dass manche Reisende an Bord nicht ganz koscher sind. Seine Instinkte täuschen ihn nicht. Kaum ist die Maschine in der Luft, wird sie von einem brutalen Kidnapper entführt. Die Passagiere und Crew lassen sie in Unklaren. Kein Problem für Sam, er bekommt schnell heraus, was los ist und stiftet mit seiner Strategie viel Verwirrung. Nervenkitzel pur. Für Küchen-Profiler genau die richtige Serie.
Hijack – Serie verfügbar auf Apple TV
Ich habe keine Angst
Es ist ein heißer Sommer. Ein Kaff in Süditalien ist fast ausgestorben, weil die Hitze die Menschen in ihre Häuser treibt. Das hält den neunjährigen Michele nicht davon ab, Streifzüge in die Umgebung zu machen. Durch Zufall entdeckt er ein verfallenes Haus. Er fasst sich ans Herz und erkundigt die Ruine. Die Mutprobe wird zu einem Albtraum, denn dort entdeckt er in einem Verlies einen verwahrlosten Jungen im gleichen Alter. Er behält seine Entdeckung für sich und versorgt seinen neuen Freund. Während er überlegt, wie er ihn befreien kann, kommt er auf die Spur eines dunklen Geheimnisses. Mehr triggere ich hier nicht. Endlich gibt es den Roman wieder im Buchhandel. Ammanitis Roman ist ein großartiger Krimi. Er gilt als Italiens bester Erzähler. Ein Page Turner.
Ich habe keine Angst – Niccolò Ammaniti, 256 Seiten, Eisele
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Verzeih mir bitte den Ausflug in die Zukunft. Vielen Dank für deine Zeit. Es freut mich, wenn es dir gefallen hat. Wir sehen uns im November wieder. Liebe Grüße.
Knuth ist Gründungsmitglied von SoSUE und unterstützt als PR-Berater noch weitere Marken. Er selbst beschreibt seine Arbeit als „irgendwas mit Medien“. Der Hamburger würde am liebsten auf einen Berg mit Strand ziehen. Mehr über Knuth erfahrt ihr auf seiner Website Collideor and Scope.