Erfahre, was Tinnitus ist und wie er sich auf das Leben von Betroffenen auswirken kann. Wenn du plötzlich ein Pfeifen, Klingeln oder Rauschen in den Ohren hörst, könnte es sich um Tinnitus handeln. Die ständigen Begleiter im Alltag können die Stille beenden. In ihrem Artikel beschreibt Karina Lübke, wie diese lästigen Geräusche ihr Leben beeinträchtigt haben. Lese jetzt mehr über Tinnitus und seine Auswirkungen.
Von Karina Lübke
Stille war mein Lieblingsgeräusch. Dass ich sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr hören kann, ist eins der Unglücke in meinem Leben, mit dem ich mich arrangieren musste, aber nie abgefunden habe: Ich trauere um daunenkissendicke Abendstille. Zarte Sommerstille auf dem Land. Schneegedämpfte Winternachtsstille. Großstadtstille frühmorgens kurz vor vier. Die schwebende Stille zwischen dem letzten Ton eines Konzertes und dem losprasselnden Applaus. Die hochpotenzierte Stille in der Meditation einer Gruppe. Die heilige Stille in der Kapelle eines alten Zisterzienserklosters in der Provence. Ich lebe in stiller Erinnerung an alle, aber kann sie nicht mehr empfinden. Denn vor dem Eingang in die Stille rauscht für mich mein Tinnitus wie ein elektrischer Wasserfall, um den es keinen Weg hindurch oder drumherum gibt.
18 Millionen Menschen in Deutschland leiden in ihrem Leben mal unter Ohrgeräuschen, davon 3 Millionen chronisch - also dauerhaft seit mehr als drei Monaten. Tendenz zunehmend, weil auch die Auslöser Stress, Lärm und Überforderung immer stärker zunehmen und Grundlage des „modernen“ Lifestyles sind. Es herrscht ein permanenter Buzz, den man lange wegfiltern kann - bis man es plötzlich nicht mehr kann. Denn für die permanente Überforderung durch Reize, Alarmsignale und Informationen sind unsere total anachronistischen Hörnerven einfach nicht geschaffen. Ohren stehen immer wachsam offen, während man die Augen gut vor etwas verschließen kann. Insofern ist Tinnitus DIE symptomatische Krankheit unserer Zeit: Es gibt keine Heilung, bestenfalls Linderung indem man „nicht hinhört“, den Daueralarm positiv umdeutet oder ignoriert. „Damit musst du leben“ gilt ja aktuell für viele Dinge. Meine Umwelt kann jedenfalls gut damit leben, ohne zu leiden, denn die Überaktivität der Hörzentren im Hirn ist weder ansteckend noch von außen sichtbar.
Aber warum ich? WARUM? Mein Weg zur Tinnitusse ist nicht vorhersehbar gewesen: Ich mochte immer die leisen Töne; war nie eine, die auf Konzerten vor der Box getanzt hat. Ich war keine Drummerin in einer Punkband; mied Knallkörper, Schusswaffen und Feuerwerk. Dieses Dröhnen im Kopf kannte ich nur, wenn ich als Teenagerin aus der Disco gekommen war, wo man sich beim Tanzen gegenseitig Sätze in die Ohren geschrieen hatte und in der nächtlichen Stille an einer Haltestelle auf den letzten Bus wartete. Dann war dieses Tosen in den Ohren - wie der Eintrittsstempel auf meiner Hand - eine Auszeichnung. Ab- und Anzeichen, dass ich dabei gewesen war. Rock ‘n Roll. Und ebenso wie der Stempel zuverlässig am nächsten Tag wieder verschwunden.
„..Gegen Schmerzen kann man wenigstens ab und zu etwas Schmerzfreiheit durch Tabletten erkaufen.
Für die Stille gibt es keine Pille. Probiert habe ich trotzdem fast alles...“
„Viel Glück!“.
Gegen Schmerzen kann man wenigstens ab und zu etwas Schmerzfreiheit durch Tabletten erkaufen. Für die Stille gibt es keine Pille. Probiert habe ich trotzdem fast alles - Aspirin, Magnesium, Ginkgo. Ich habe im Lauf der Jahre sicher den Gegenwert eines Mittelreihenhauses ausgegeben für alternative Hoffnungsschimmer in Form von Eigenblutbehandlung, Bio-Resonanzverfahren, Heilhypnose, Homöopathie, Akupunktur, Zahnschienen, Osteopathie, Reiki, sowie einen Zimmerspringbrunnen. Der trieb mich nicht nur weiter in den Wahnsinn, sondern auch noch permanent zur Toilette. In unseren modernen Zeiten, wo man Kunstherzen verpflanzt, und zum Mars fliegt, bleibt Tinnitus unheilbar wie im Mittelalter: Gewöhn dich dran. Aber WIE? Und sind die Methoden, körpereigenes Grundrauschen zu minimieren, nicht seit mindestens einer Generation absolut verpönt: Weghören, Unterdrücken, Ignorieren? Wer das nicht schafft – naja, selber schuld. Nur kein Druck!
Stille ist bei Tinnitus jedenfalls kontraindiziert und „machen Sie Yoga, meditieren Sie“ in der akuten Phase wohl der beschissenste Rat. Was ohnmächtige Verzweiflung ist, wusste ich in dem Moment, als alle anderen während der Meditation selig in der Stille ihres Herzens ruhten, während die Hochspannungsleitung durch meinen Kopf lauter denn je summte. Ich war sicher, man könnte von außen meinen Kopf vibrieren sehen! Der HNO-Arzt empfahl mir, eine sechswöchige Kur in einer spezialisierten Tinnitus-Klinik zu machen - doch wer hätte so lange auf meine beiden sehr kleinen Kinder aufgepasst? Mein Sohn war noch ein Baby! Es schien mir einfacher, dass ich blieb. Den Alarm krampfhaft ignorierte. Eine der großen Fehlentscheidungen, im Rückspiegel meines Lebens gesehen, denn der Tinnitus blieb auch. Ich hoffte damals, das würde schon wieder still. Ist es leider nicht, aber immerhin viel besser. Erträglich bis unerhört. Mit dem Brandungsgeräusch "Felsenstrand" meiner ZEN Tinnitus App überspüle ich stressige Momente. Könnte mir die Krankenkasse nicht einfach ein Haus am Meer bezahlen? Nur Töne, die genau auf der gleichen Frequenz liegen wie meine Phantomtöne kann ich leider nicht mehr hören - etwa Zikadenzirpen in einer Sommernacht im Süden. Es gibt Schlimmeres.
Wenn ich mich so umhöre, haben etliche meiner Freunde und Bekannten Tinnitus. Darüber spricht man nicht gerne. Denn Ratschläge wie "du musst dich echt mal richtig entspannen!" können wir wirklich mehr hören. Außerdem ist da die Sorge, in dieser Hochleistungsgesellschaft als weniger belastbar angesehen zu werden, weil wir mehr Ruhe brauchen, um den Mangel an Stille zu kompensieren. Nein, schussfest sind wir nicht. Na und? Aber sollte jemand unser Haus wie einst bei Diktator Noriega als Zermürbungsstrategie dauerhaft mit schrecklicher Musik beschallen, werden wir die Coolsten sein. Da hören wir nämlich einfach drüber hinweg.
Der Tinnitus ist für mich mittlerweile wie ein überambitionierter Hausmeister, der mit dem Staubsauger zwischen meinen Ohren herumfährt. Am Anfang saß ich mit ihm gefühlt in einem Einzimmerappartement fest, während er volle Kanne um mich herum saugte. Nichts konnte ihm den Stecker ziehen. Was im Laufe der Zeit funktionierte, war meinen Kopf im Geiste immer weiter auszubauen, aufzustocken, aus dem kleinen Raum ein riesiges Schloss zu machen. Ich drängte ich ihn mental hinaus, um auf dem Gang weiter zu saugen, dann immer eine Etage tiefer, bis er endlich weit unten im Erdgeschoss herumfuhrwerkte. Es wurde leiser und leiser, manchmal muss ich richtig hinhören, ob er noch da ist. Wir haben uns aneinander gewöhnt, er ist deutlich rücksichtsvoller geworden und ich tatsächlich entspannter. Meistens habe ich einfach Besseres zu tun, als zu lauschen, was er so treibt. Aber die Stille, die ich in all ihren Formen so geliebt habe, werde ich wohl erst mit der ewigen Ruhe wiederfinden.
Karina studierte erst Design, machte ein Diplom in Mode und absolvierte dann bei Wolf Schneider die Hamburger Journalistenschule. Sie wurde anschliessend Redakteurin und Kolumnistin bei TEMPO und schrieb dann freiberuflich für einige Magazine. Ihre monatliche Kolumne "Bitte recht feindlich" in der Zeitschrift BARBARA hat eine große Fangemeinde und wird Anfang diesen Jahres als Buch erscheinen, ebenso wie ihr nächster Roman. Zwischendurch heiratete sie, zog eine Tochter und einen Sohn groß. Mehr erfahrt ihr hier.