Vom Leben in Venedig: Interview mit Petra Reski

 

Petra Reski ist Schriftstellerin und Journalistin und lebt seit 1991 in Venedig, nachdem sich ihr ein Venezianer in den Weg geworfen hat. Da kam sie gerade aus Palermo und hatte sich fest vorgenommen, Venedig für überschätzt zu halten. Hat nicht ganz geklappt. Seitdem schreibt sie über Italien: von den letzten Venezianern bis zum nächsten Ausbruch des Vesuvs. Jetzt ist ihr neues Buch „Als ich einmal in den Canal Grande fiel“ bei Droemer erschienen. Wir haben sie zu einem Interview getroffen.


 

Du lebst seit 30 Jahren in Venedig, gab es einen besonderen Anlass, der Dich dazu gebracht hat, jetzt ein Buch über Venedig zu schreiben?

Ja, es war der Moment, als ich in meinem Boot unterwegs zu einem alten Freund war, Alberto, ein Fischer, der in San Pietro di Castello wohnte. Als ich ihn anrief, sagte er mir, dass er nicht mehr in Venedig wohnt, sondern auf Druck seiner Familie aufs Festland nach Mestre gezogen ist. Da bin ich fast in Tränen ausgebrochen. Seit Jahrzehnten werden die Venezianer aus der Stadt vertrieben, weil es hier kaum noch bezahlbaren Wohnraum gibt. Aber als es Alberto traf, war das für mich ein Zeichen dafür, dass in Venedig ein point of no return erreicht war. Und darüber wollte ich schreiben. Über meine Trauer. Und über meine Liebe.

Erinnerst Du Dich noch an den Augenblick, in dem Du Dich in Venedig verliebt hast?

Ehrlich gesagt, habe ich mich nicht in Venedig verliebt, sondern in einen Venezianer, der stirbt, wenn er aus dem Fenster blickt und kein Wasser sieht. Von Anfang an war mir klar, dass dieser Mann ohne Venedig nicht leben kann. Venedig ist mir also mehr oder weniger zugestoßen. Wie ein Schicksalsschlag.

Aber heute ist Venedig für Dich die schönste Stadt der Welt?

Nein, Venedig ist viel mehr als das, Venedig ist eine Utopie, ein begehbares Wunder, eine vollstreckte Unmöglichkeit. Das Etikett „schönste Stadt der Welt“ ist für Städte wie Paris passend oder für Rom, aber man wird Venedig nicht gerecht, wenn es man mit Kategorien bemisst, die für das Leben auf dem Festland relevant sind. Venedig fordert dich und deine Sinne heraus. Es ist ein Gegenentwurf zur Wirklichkeit, so wie wir sie kennen. Venedig entzieht sich der Vereinheitlichung der Welt. Venedig ist unangepasst. Venedig ist eine Provokation. Die es zu unterwerfen gilt. Mit Gewalt.

War dir das alles schon klar, als Du nach Venedig gezogen bist?

Nein, ich wusste von Venedig nicht mehr, als dass es im Wasser liegt. Die Annäherung an Venedig hat auch sehr lange gedauert, es ist nicht ganz einfach, hier Fuß zu fassen, auch darüber habe ich geschrieben. Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, ich hatte in Hamburg gelebt, in Berlin und in Paris, nie wäre ich auf die Idee gekommen, nach Venedig zu gehen. Die Vorstellung, in ein begehbares Wunder zu ziehen, wäre mir anmaßend erschienen.

Aber wann hast Du Dich in Venedig verliebt? Denn Dein Buch ist ja nicht zuletzt auch eine Liebeserklärung.

Verliebt habe ich mich in Venedig erst, als ich seine Verletzlichkeit entdeckte. Als ich merkte, wie die Stadt verstümmelt wurde, durch das Mehr, Mehr, Mehr der touristischen Monokultur, die von den venezianischen Bürgermeistern seit dreißig Jahren wie eine Staatsreligion gepredigt wird. Als man Venedig seiner lebenswichtigen Funktionen beraubte, als Krankenhäuser geschlossen, Inseln verkauft und Schulen in Hotels verwandelt wurden.

Warum wählen die Venezianer denn Bürgermeister, die nicht ihre Interessen vertreten?

Venedig hat keine eigene Stadtverwaltung, sondern wurde während des Faschismus mit dem Festland zwangsverheiratet. Zur Zeit von Mussolini lebten in Venedig noch 200 000 Einwohner, auf dem Festland nur 40 000. Heute hat sich das Verhältnis nahezu umgekehrt: Wenn der Bürgermeister von Venedig gewählt wird, wählen ihn nicht die Venezianer, sondern die Festlandsbewohner, die in Mestre, Marghera, Favaro, Campalto, Chirignago-Zelarino wohnen und deren Lebenswirklichkeit sich fundamental von der Venedigs unterscheidet: Die eine rollt auf Rädern, die andere schwimmt auf dem Wasser. Weder der Bürgermeister, noch die anderen Ratsmitglieder leben in Venedig, alle leben auf dem Festland, sie kennen das Leben der Stadt nicht, die sie verwalten.

Was steht in Deinem Buch, was man in anderen Venedig-Büchern nicht liest?

Mein Buch ist kein Venedig-Reiseführer, sondern versucht die Leser dafür zu sensibilisieren, dass Venedig mehr ist als eine Destination, mehr als ein Instagram-Hotspot: Venedig ist eine Kultur, die im Schwinden begriffen ist. Ich will eine Innenansicht dieser Stadt liefern, die sich nicht der üblichen Klischees bedient. Das Schicksal von Venedig sollte uns nicht gleichgültig lassen, Venedig ist eine Metapher für die Welt: Wenn Venedig stirbt, dann sieht es für den Rest auch nicht gut aus, denn Venedig ist den zwei größten Herausforderungen unseres Jahrhunderts ausgesetzt, dem Klimawandel und den Overtourism.

Und daran hat die Coronakrise nichts geändert? Immerhin wurden doch die Kreuzfahrtschiffe jetzt verbannt.

Verbannt wurde hier gar nichts, leider haben die Journalisten nichts anderes als eine Absichtserklärung der italienischen Regierung ungeprüft verbreitet. Die Kreuzfahrtschiffe werden ab dem 2. Juni wie gehabt wieder am Markusplatz vorbeifahren und die Lagune weiterhin zerstören, ohne dass man sie daran hindert.

Aber verdient die Stadt nicht auch an den Kreuzfahrttouristen?

Nein, die Kreuzfahrtindustrie kostet Venedig mehr, als die Stadt daran verdient. Ein venezianischer Wirtschaftsprofessor hat das Kosten-Nutzen-Verhältnis zwischen Venedig und den Kreuzfahrtschiffen schon vor Jahren in einer Studie aufgeschlüsselt und konnte nachweisen, dass die Kosten der Kreuzfahrtindustrie, also die Luftverschmutzung, die Zerstörung der Lagune und die Beschädigung der Uferbefestigungen den Verdienst bei Weitem übersteigen. Die Liegegebühren für die Schiffe gehen nach Rom und der Passagierhafen wird von einer privaten Gesellschaft betrieben, die mehrheitlich den Kreuzfahrtgesellschaften selbst gehört. Die Tentakeln der Lobbys der Kreuzfahrtindustrie reichen bis weit in die Politik hinein.

Du schreibst: „Nicht mal die Pestepidemie von 1630 war so effektiv bei der Beseitigung der letzten Venezianer wie die Erfindung der Ferienwohnung. Wo früher Venezianerinnen mit ihren Einkaufswagen aus dem Haus traten, stehen heute Menschen, die daran scheitern, an der Tür für ihr Airbnb-Appartement den richtigen PIN-Code einzugeben.“ Was können wir als Touristen tun, um Venedig zu helfen?

Ganz konkret: Kein Airbnb buchen. Keine Kreuzfahrt buchen. Keinen Tagesausflug nach Venedig machen, sondern sich mindestens für drei Tage auf die Stadt einlassen, auf ihren Rhythmus, auf ihre Kultur, auf ihr Lebensmodell. Venedig ist eine Stadt des menschlichen Maßes, in jeder Hinsicht, was die Entfernungen betrifft und die menschlichen Beziehungen auch. Venedig hat nicht nur den Vorzug, mit Schönheit zu wuchern, sondern auch mit Menschlichkeit. Es ist eine Stadt, in der man sich noch begegnet.

 

Fotos: Paul Schirnhofer und Shobha


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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