Rumbutschern

 

„....Mit gelassener Erleichterung nahmen seine Augen Notiz: das ist eine Straße hier,  mitten am Tag....“ 

Ulysses, James Joyce

 

Tatsächlich ich bin ein Straßenkind. Wenn ich mein Zuhause nicht ertragen konnte, habe ich mich davongemacht. Rumbutschern nennen wir das in Hamburg. Rumbutschern ist eine Art Chillen in Bewegung, man hängt an möglichst vielen unterschiedlichen Stellen ab. Einfach gucken, was so geht. Als Kind machte ich das häufig so, ich ging weit und war lange weg. Ich habe das Rufen meiner Mutter nicht mehr gehört, wenn sie mich zum Essen rief. Ich hatte keine Lust auf Graubrot oder Eintopf. Die Verführungen der Straße waren einfach stärker. Auf der Straße ließ man mich in Ruhe. Ich wurde ein Streuner und ich fand Gefallen daran, sehr zum Leid meiner damaligen Lehrer, weil ich häufig zu spät zum Unterricht kam. Unterwegs auf dem Weg zur Schule ging ich andere Wege, schaute in fremde Gärten, beobachtete Menschen, schlich mich in Hausflure oder verquatschte mich einfach. Noch heute passiert mir das. Ich komme zu spät, weil ich ein neugieriger Geher geworden bin.

Im Spielfilm Notting Hill gibt es eine Szene, die ich gerne mag. Der Buchhändler William Thacker gespielt von Hugh Grant geht eine Straße längst, auf der sich ein Markt befindet. Die Kamera begleitet ihn durch die unterschiedlichen Jahreszeiten. Er geht durch die Monate bei Wind und Wetter. So könnte ich mir den Beruf als Geher vorstellen, mich in den Straßen, Gassen, Winkeln und Plätzen verlieren. Würde es ihn geben, würde ich ihn sofort ergreifen. Klar könnte ich Autofahren oder Radfahren, aber als Autofahrer bin ich eine Gefahr, weil ich mich nicht auf den Verkehr konzentrieren kann. Radfahren mag ich auch nicht, obwohl mir als Senioren-Hipster so ein Fixbike gutstehen würde. Beide Fortbewegungsarten sind mir zu schnell, sind mir zu stark an Systeme gebunden und ich habe auch Angst etwas zu übersehen. Gehen ist für mich wie eine Art Spurenlesen, um einen Ort bequem zu sezieren. Dann bin ich dem Asphalt ganz nahe und spüre das Wummern unter der Schuhsohle.

Foto: Kung Shing - Entdeckung in der Sackgasse: Kirschblüten faulenzen auf einem Teich 

Am Liebsten gehe ich in Städten spazieren, weil sie komplexe Collagen sind, die ich beim Gehen gut „entkleben“ kann. Ich lausche den Unterhaltungen an den Ampeln, codiere die Mode der Viertel und studiere die Häuser. Ich entdecke dann die feinen Unterschiede des Lebens, egal ob ich in einer Vorstadt, in einer Plattbausiedlung oder in einem feinen Villenviertel unterwegs bin. Wenn ich gehe, habe ich kein Interesse an frischer Luft oder Bewegung, aber ich gebe zu, dass es ein schöner Nebeneffekt ist. Ich will auch keine Leistung zeigen oder mich optimieren. Gehen, das einen Wortverstärker wie Power braucht oder in zurückgelegten Kilometern gemessen wird, lehne ich ab. Ich möchte einfach nur etwas entdecken, was sehen und es festhalten. Wenn ich Freunden von meinen Entdeckungen erzähle, wissen sie meistens nichts von dem Park im Hinterhof in ihrer Nähe oder haben keine Ahnung von den stillgelegten Fabriken am anderen Ende der Stadt.

Das Beste am Gehen? Wenn mir plötzlich der Weg versperrt ist oder ich einen falschen Weg eingeschlagen habe. Über den Umweg habe ich schon spannende Orte und Menschen kennengelernt. Verlaufen wird überhaupt unterschätzt. Letztes Wochenende zum Beispiel ist mir das erst mit meiner Frau passiert. Wir haben uns im Übergang zwischen Stadt und Hamburger Hafen verlaufen. In einer Straße stapelten sich auf der einen Seite die Container und auf der anderen Seite waren Wohnhäuser, die im Schatten der Container standen. Dazwischen grillten Männer. Am Ende der Straße war eine große Wiese, auf der eine einsame aber sehr laute Rave-Party mit Eltern und deren Babys stattfand. Gegenüber lag ein Schiff das gerade beladen wurde. Die lauten Beats, der Grillgeruch, die tanzenden Techno-Eltern, der Fluß und die Containerberge, dass war schon eine merkwürdige Stimmung. Das Schlimmste am Gehen? Das sind die langweiligen und einsamen Fußgängerzonen und inszenierten Shoppingmeilen mit und ohne Luxuserweiterungen. In vielen deutschen Städten regiert in den Zentren die Langweile der Vorstädte und der Provinz. Als würden Stadtplaner und Architekten die Träume der Menschen aus der Peripherie umsetzen. Hier gibt es einfach kein Wummern unter der Schuhsohle. Was ich dagegen tue? Ich gehe einfach weiter und „butscher“ woanders rum – hoffentlich verlaufe ich mich dann wieder.

 

 


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