Die Kunst ist zurück. In Berlin macht sich die Stadt für die erste Kunst-Großveranstaltung seit dem Lockdown bereit. Großveranstaltung? Ja! Verteilt in der ganzen Stadt wird Kunst trotz der globalen Pandemie sichtbar gemacht: In Galerien, Museen, privaten Sammlungen, in extra Räumen, open air in Hinterhöfen oder Gärten und auf einer Messe am alten Flughafen Tempelhof. Alles mit Maske, Abstand, ausreichend Desinfektionsmittel und ohne Parties bis zum Morgengrauen – ganz klar. Parallel zur art week, die am 9. September startet, findet in diesem Jahr das Ende April verschobene Gallery Weekend statt und so zeigen die Galerien ein besonders hochkarätiges Kunst-Programm. In jedem Fall heißt es: Auf zur Kunst nach Berlin, diese oder nächste Woche oder wann auch immer in den kommenden Herbstwochen... Hier die Highlights.
Kunst an besonderen Orten
Dit is Berlin! Sagt der ein oder andere, denn hier gibt es diese Orte mit einmaligen Flair. Kunst in einer brutalistischen Kirche, im verlassenen Krematorium, einem geschickt renovierten Umspannwerk oder in einem der ältesten Häuser der Stadt. Diese vier Galerien in Kreuzberg, im Wedding und Mitte lohnen immer, haben ein super Programm vom etablierten bis zum aufstrebenden Künstler: König, Ebensperger, Konrad Fischer und Kewenig.
- Bei König in der denkmalgeschützten St. Agnes Kirche aus den späten 60er Jahren gibt zur art week zudem große Kunst auf der art basel ähnlichen Messe zu kaufen. Dazu kann der Besucher den in Los Angeles lebenden, surreal malenden Friedrich Kunath entdecken und sich in seiner moderne Interpretation der deutschen Romantik verlieren. Sonnenuntergänge, Herzschmerz und Schmunzeln garantiert.
- Im Weddinger Krematorium ist der Galerieort von Patrick Ebensperger. In den alten Räumen voller Geschichten ist die Kunst immer neu und überraschend. Der Österreicher hat den Videokünstler Bjørn Dahlem, Lichtkünstler Tim Etchells oder Malerin Maria Thurn und Taxis im Programm. Zur art week werden filmische Werke der Künstlerin Marta Górnicka gezeigt. Es geht auch um eine Hymne an die Liebe und das Grundgesetz. Ich bin gespannt.
- Im Umspannwerk bei Konrad Fischer gibt es auf drei Stockwerken den deutschen Bildhauer und Maler Thomas Schütte zu sehen. Sehr museal und beeindruckend. Einige seiner überlebensgroßen Bronzeskulpturen stehen gleich vor dem Gebäude.
- Ganz in der Nähe in der Brüderstraße 10 ist im zweitältesten Bürgerhaus Berlins die Galerie Kewenig zu finden. Seit 2013 hat die aus Köln stammende Galerie hier neben Palma de Mallorca ihr Galerieräume. In den weißen Bildwelten des 2002 gestorbenen Malers entdecke ich immer wieder in welch‘ grenzenlose Dimensionen mich diese einzige Farbe beamen kann. Und hinter dem Haus im Garten sind bronzene Skulpturen von Leiko Ikemura zu Gast. Open Air ist in Covid-19 Zeiten das neue Normal.
Gallery-Hopping Fasanenstraße
Die beschauliche Straße geht vom geschäftigen Kudamm ab. Hier stehen hochherrschaftliche Wohnhäuser aus längst vergangenen Zeiten. Kleine Cafes wie das Aera und Literaturhauscafe, Boutiquen á la A.P.C. oder Aesop gesellen sich zu den Galerien: Kornfeld und schräg gegenüber 68 projects. Die Schwestergalerien stellen sowohl etablierte wie junge Künstler aus. Ich freue mich auf die Werke der georgischen Künstlerin Tamara Kvesitadze, die gerade in China eine riesige kinetische Skulptur aufgestellt hat. Ebenfalls in der Fasanenstraße sind Crone und im ersten Stock der Nummer 30 die Galerie Buchholz. Die Auktionshäuser Ketterer aus München und Grisebach aus Berlin haben ebenfalls sehenswerte Ausstellungsräume auf dem Stück zwischen Kudamm und Lietzenburgerstraße. Die Stunden mit der Kunst fliegen hier im schicken Charlottenburg-Wilmersdorf nur so dahin.
Noch mehr spannende Kunst ist ein paar Minuten weiter am Fasanenplatz zu finden: Die Galerien Mehdi Chouakri und Klaus Gerrit Friese (Achtung im 1. Stock der Meierottostraße 1, aber direkt über Chouakri) zeigen zur art week Künstlerinnen, die ich sehr mag: Die Schweizer Künstlerin Sylvie Fleury, die sich in ihren schönen Objekten mit der Luxuswelt beschäftigt. Bei Friese tritt Karin Kneffel mit ihren aktuellen Bildern in einen sicher anregenden Dialog mit dem 1955 gestorben Willi Baumeister. Alle Galerien laden am Freitag, den 11. September, bis 21 Uhr zum Opening. Danach bleibe ich noch auf einen Drink im legendären Rum Trader auf der Terrasse mit Blick auf den kleinen Platz und rede über die inspirierende Kunst.
Gallery-Hopping Potsdamerstraße
Das Kontrastprogramm dazu ist die Potsdamerstraße. Eine der angeschrabbelsten Straßen Berlins, laut und dreckig und doch lockt die zeitgenössische Kunst seit nunmehr elf Jahren hierher in Hinterhöfe und erste Etagen. Ich lasse mich treiben und tauche von einem Kunstort in den nächsten. Entdecke junge und sehr bekannte Künstlerinnen und Künstler, kann mit den Galeristen sprechen, mir die Arbeiten erklären lassen und vielleicht das ein oder ander Werk erwerben.
Kein Geheimtipp mehr, dennoch nicht nur für Kunstsüchtige ein Muss. Denn inzwischen hat sich in der Straße auch die Mode angesiedelt. Die Shops von Acne, Paul Smith, Odeeh, der Hutmacherin Fiona Bennet und der Conceptstore von Andreas Murkudis finden sich rund um die Mercatorhöfe. Chic essen kann man bei Eat, Stick‘s and Sushi oder im Irma la Douce.
Auf der unbedingt-sehen-List esteht Esther Schipper. Die Galerie zeigt in einem temporär angemieteten Space Ugo Rondinone. In der riesigen Rotationshalle werden nuns + monks präsentiert. Der Schweizer Bildhauer arbeitet mit gestapelten Steinen. In dieser Größe und diesem grellem Neon habe ich die zuletzt in Miami auf der art basel gesehen.
Zwei Mal ins Museum
Nicht verpassen sollte man momentan den Hamburger Bahnhof mit dem prächtigen Farbenrausch von Katharina Grosse. Die Berliner Künstlerin hat für ihre Ausstellung It Wasn‘t Us in und um das Museum herum ein begehbares Bild geschaffen. Und sprengt alle vorgegebenen Grenzen. Scheinbar endlose Farbkombinationen fließen ineinander. Sie ergießen sich auf dem Boden, klettern eine eisbergartige, acht Meter hohe Skulptur empor, umschlingen einen kleinen Park und bespielen die Wände der Rieck-Hallen hinter dem historischen Museumsgebäude. Mal bin ich ein Teil der Installation, dann wieder nur der Betrachter, je nachdem, wo hin ich mich bewege.
Weniger bunt, aber auch rauschhaft geht es in der Julia Stoschek Collection zu. Bei Jeremy Shaw geht um parafiktionale Verflechtungen, Musik, Tanz und spirituelle Erlebnisse. Die drei Filme der Ausstellung Qualification Trilogy erzählen eine neu gedachte Zukunft aus der Gegenwart heraus in dem zurückgeschaut wird. Verwirrt? Alles easy, wenn man sich ein bisschen Zeit zum Anschauen der Filme nimmt und sich dem Flow hingibt. Ein einmaliges Erlebnis und erfahrbare Kunst at ist best. Der in Berlin lebende kanadische Künstler hat eine sehr eigene Formensprache. Dazu benutzt er Dokumentarfilmmaterial aus den 60er und 70er Jahren und unterlegt sie mit pseudo-wissenschaftlicher Sprache. Mit den Filmen will er veränderte Bewusstseinszustände erforschen.
Messe am Flughafen Tempelhof
Sie trauen sich und veranstalten die erste Kunstmesse nach Beginn der Pandemie. Die Macher der Positions heben in Tempelhof ab und mit ihnen 120 Galerien beispielsweise aus Berlin, Stuttgart, Amsterdam oder Vilnius. In den Messekojen gibt es Malerei, Zeichnungen, Lichtkunst, Skulpturen, Objekte sowie Fotografie, da die Photo Basel zu Gast ist. Alles unter strengster Einhaltung der Hygienregeln – keiner will, dass die Messe zum Virus-Hotspot wird. Vor den beiden großzügigen Hangars kann der Besucher auf dem überdachten Flugfeld an Foodtrucks mit Essen und Trinken pausieren. Mit dabei sind dieses Mal auch Mode-Designer, sie präsentieren sich auf der Fashion Positions. Allen Austellern gemeinsam geht es darum sichtbar zu bleiben, durch die Kooperation von Kunst und Mode wird die Aufmerksamkeit erhöht. In diesen unsicheren Zeiten eine tolle Idee. Und d e r Pflichttermin zur art week am Wochenende. Die Location ist einzigartig und Mode kann man ja ebenso wie Kunst sammeln.
Geheimtipp Privatsammlungen
Immer wieder zur art week öffnen Berliner Privatsammlungen ihre Türen. Das angebotene Spektrum, die eigentlich nicht öffentlichen Orte sind absolut sehenswert und allein hierfür lohnt sich der Wochenend-Trip nach Berlin. Mein Favorit für diese artweek: Informatiker und App-Entwickler Ivo Wessel arbeitet und lebt im Werkhof L.57 in Moabit umgeben von seiner Kunstsammlung, Computern und Büchern. Auf dem Gelände haben Künstlerinnen wie Katharina Grosse oder Karin Sander ihre Ateliers. Zur art week öffnen sie diese, es wird eine open air Ausstellung auf dem Gelände und eine in den Räumen der Architekten Sauerbruch Hutton geben. Der L.57 in der Lehrter Straße 57 ist sehr weit oben für das Wochenende auf meiner to-do-Liste eingetragen.
Das auf allen social Media Kanälen gehypte Berghain seinem Studio Berlin würde ich gerne empfehlen. Da es aber immer noch keine online-Tickets zu buchen gibt, befürchte ich zum art week Wochenede lange Schlangen, ganz so wie zu Clubzeiten. Die ausgestellten in Berlin lebenden Künstler sind dort noch länger zu sehen. Also, bleibe ich gelassen und habe keine Angst etwas zu verpassen.
Essens-Tipps
Da ich hier lebe, tue ich mich schwer. In der eigene Stadt hat jeder ganz eigene Prioritäten. Und das Klischee , dass es in Berlin inzwischen an jeder Ecke schnelle Bowl Food oder Burger in irre coolen Läden gibt stimmt. Currywurst und Döner gehen sowieso immer und überall. Absolute Klassiker sind für mich die Paris Bar, das Grill Royal und der Ableger Petit Royal. In allen drei Restaurants hängt Kunst ohne Ende an den Wänden. Asiatisch-peruanisch und einfach besonders ist das 393 Ryotei. Die besten getrüffelten Nudeln der Stadt findet man im Mine und irgendwie fühlt es sich hier nicht nach Italiener um die Ecke an, sondern sehr großstädtisch. Großzügig luftig sitzt man in derBar Brass mit frischer regionaler Küche neu interpretiert. Und schon wieder an einem Kunstort, nämlich der Bronzegießerei Noack. Nebenan entstehen auch zeitgenössische Skulpturen und das Essen ist top. In Mitte empfehle ich das brandneue Remi, dort gibt es exzellente regionale Küche mit Berlin-Twist. Köstliche deutsche Tapas stehen bei Peter Paul auf der Karte. der Torstaße, wo es natürlich noch endlose weitere Tipps gäbe, aber das Wochenende ist einfach zu kurz.
Über die Autorin:
Juliane Rohr ist Journalistin, lebt und arbeitet in Berlin. Sie schreibt mit Leidenschaft über Kunst und Menschen in der Kunst u.a. für n-tv.de. Im Blog kochen, kunst und ketchup bespricht sie monatlich Ausstellungen in Berlin und anderswo. Wer ihr unter jr.artynotes folgt, kann sich auf Instagram von ihren Kunst-Tipps inspirieren lassen.