Wir leben in einer MeDamic. Überall nur Egoisten. Glaubst du doch auch? Knuth war davon auch überzeugt, als ihn ein Cargobike fast überrollte. Erst bei einem Kaffee kam er auf andere Gedanken. Wieder mit dabei im Monatsrückblick fünf Kulturtipps.
#MeMyselfAndI
September 2021 – Das war knapp. Fast erwischte mich eine Cargobike-Mama auf dem Fußgängerweg. Ihre beiden Kinder schliefen vorne. Sie wirkte auch narkotisiert. Ein Sprung zur Seite rettete mich. Mit viel Mühe machten die anderen Passanten ihr auch Platz. Kein Danke. Keine Entschuldigung. Sie hinterließ eine Schneise voller Flüche und Kopfschütteln. Sie tat wahrscheinlich nur das, was uns alle seit Jahrzehnten eingetrichtert wurde: Folge deinem Herzen.
Der Beinahunfall bestärkte mich in meiner Überzeugung: Ich lebe in einer MeDamic. Der Egovirus hat uns alle kontaminiert.
Zu Hause angekommen recherchierte ich auf Instagram Hashtags. Hier auf einem der größten Egoshooter-Netzwerke der Welt, werde ich den Beweis für eine MeDamic finden, da war ich mir sicher. Tatsächlich, die Zahlen gaben mir recht, der Hashtag #me wurde 457 Millionen mal verwendet und der Hashtag #we dagegen nur 13 Millionen mal. Das war der Beleg, die Plattform ist ein MeDamic- Superspreader. Schlagartig fielen mir Momente und Personen ein, die mich mit ihrer Selbstverliebtheit anstrengten. Überall sah ich nur noch Egoisten. Mein kurzer kognitiver Amoklauf bestärkte mich in meinen neuen Erkenntnisse, dass die Welt im Arsch ist. Zufrieden nahm ich einen Schluck heißen Kaffee. Ich hatte recht. Aber hatte ich recht?
Beim zweiten Schluck Kaffee wurde mir bewusst, dass es auf Social Media auch Menschen gibt, die alles andere als Me-myself-and-I sind. Und klar, die Mitglieder vom Stamme „Ich“ werden von den Algorithmen geliebt und gefördert. Vielleicht nehme ich sie auch nur deshalb war. Außerdem sind es nur dämliche Hashtags. Das bedeutet gar nichts. Viele kennen ja nicht mal deren Bedeutung. Social Media mag zunehmend unser Verhalten und Leben beeinflussen, vielleicht sind wir sogar alle mit den Jahren narzisstischer geworden, aber es gibt da draußen in der echten Welt immer noch viel Achtsamkeit.
Tatsächlich beobachte ich, dass die meisten Leute im alltäglichen Umgang freundlich und hilfsbereit sind. Wie oft haben mir schon Unbekannte geholfen. Sollte ich mal auf der Straße bewusstlos umfallen, würde mir jemand helfen und dafür sorgen, dass ich in einem Krankenhaus wieder aufwache. Wie konnte ich mich so irren?
Der Kaffee war jetzt lauwarm. Eine doofe Cargorad-Mama und ein paar Hashtags haben meine Wahrnehmung für einen Moment ganz schön verzerrt. Mir war ein Bestätigungsfehler unterlaufen, weil die Eindrücke und Informationen die Situation gut erklärten. Meine Firewall ließ in dem Moment nur Dinge durch, die mich in meiner Annahme bestätigten, dass ich in einer MeDamic lebe.
Ich war einfach nur wütend auf die Frau. Wütend auf ihre Rücksichtlosigkeit. Wütend auf ihr Anspruchsdenken. Wütend auf ihre Werte. Mehr nicht. Aber Wut bringt ein Herz immer auf die falsche Fährte. Es ist nicht immer gut, dem Herzen zu folgen. Nachdenken ist da manchmal viel hilfreicher und am Ende auch gut fürs Herz.
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Ich bin froh, dass dieser Wahlkampf vorbei ist. Nach den Triells, Kinderfragen, Umfragen, Tweets und Analysen bin ich erschöpft. Ich bin jetzt parteienverdrossen, nicht politikverdrossen. Ich brauch mal eine Pause. Das nächste Mal lese ich vorher die Wahlprogramme durch, mach so schnell wie möglich Briefwahl, fahr in den Urlaub und lese nur Bücher. Die würde ich euch dann auch alle vorstellen. Aber jetzt erst mal, was mir im September besonders gut gefallen hat. Hier meine Tipps.
Call My Agent
Jeder, der mit Schauspielern und Schauspielerinnen zu tun hat, hasst deren Agenturen. Sie sind „Pain in the Ass“. Die Comedy-Serie „Call My Agent“ nimmt jetzt süße Rache. Alles dreht sich um die Pariser Agentur ASK und deren Agenten, die sich gegenseitig nicht die Butter auf dem Brot gönnen und immer wieder in amüsante Katastrophen geraten. Zu ASK gehören fast alle französischen Kinostars und sie alle spielen sich – inklusive aller Macken – selbst: Cécile de France leidet für Tarantino, Juliette Binoche hat keinen Bock auf Cannes, Isabelle Huppert mit ihrer ADHS-Arbeitswut ruiniert fast die Agentur oder Monica Bellucci sucht einen normalen Mann. Großartige Serie! Macht süchtig.
Call My Agent , Staffel 1 in der ARD- Mediathek, Staffel 2 – 4 gibt es bei iTunes zu kaufen.
Die Sonne war der ganze Himmel
Die Ereignisse in Afghanistan und der Tod von US-Soldaten im August weckten mein Interesse an einem Buch, dass schon länger in meinem Regal auf mich wartet. Die zwei GIs John (21) und sein Kumpel Murph (18) werden in den Irakkrieg geschickt. Keiner von beiden ist auf die Grausamkeiten vorbereitet und sie wissen nicht so richtig, wofür sie kämpfen. Das Buch ist von brutaler Schönheit. Es lässt tief in seelische Wunden blicken und erzählt viel über die USA. Wenn der englische Guardian schreibt, dass es ein „Must-Read“ ist, kann ich dem nur zustimmen.
Die Sonne war der ganze Himmel - Kevin Powers, S. Fischer, 240 Seiten
Imaginary Visions
Auf einer Klassenreise habe ich mal verliebt. Ein Liebe, die bis heute anhält. Ich bin durch einen Zufall in ein Konzert einer amerikanischen Army Big Band geraten. Es war wie ein Punkkonzert. Es wummerte ganz tief in meiner Brust. Seit dem höre ich gerne Big Bands. Die Danish Radio Big Band holt immer wieder Komponisten und Arrangeure aus dem Ausland, um an ihren Alben mitzuwirken. Diesmal mit dabei, die japanische Big-Band-Komponistin Miho Hazama. "Imaginary Visions", ist ihr neues gemeinsames Album. Knackiger moderner Big-Band-Sound, der auch schön wummert.
Imaginary – Miho Hazama and The Danish Radio Big Band auf Apple Music und Spotify
Cooking with Paris
„Das ist ja so, als würde ich einen alten Mann massieren“. Die das sagt, heißt Paris Hilton und balsamiert gerade einen Riesenputer. Sie steht mitten in einer großen, mit allen Raffinessen ausgestatteten Küche, hat aber keinen blassen Schimmer vom Kochen. Aus ihrem Dilettantismus macht die Godmother aller Influencer auch keinen Hehl. Für sie ist Trüffelöl nur „Rich-Bitch-Shit“ und Kartoffelschälen ist für sie so anstrengend wie Kardiotraining. Am Ende werden alle Gerichte mit essbarem Glitzerkram bestreut. Egal wie es schmeckt, Hauptsache es sieht nach Glamour aus. Eine wunderbare Netflix-Serie. Nichts für Menschen, die ihre Kinder regelmäßig ermahnen, dass sie mit dem Essen nicht spielen sollen.
Cooking with Paris – Auf Netflix
7 Mal Anders
Noch mal Kochen, aber diesmal stelle ich einen Könner vor. Die Idee zu diesem Kochbuch ist simple: Starkoch Jamie Oliver hat in verschiedene Einkaufstüten reingeschaut und ihm ist aufgefallen, dass fast überall das gleiche drin ist. Im Grunde ernähren wir uns nur von Avocado, Auberginen, Hack, Kartoffeln, Hühnchen und ein paar anderen Dingen, eben das, was ein durchschnittlicher Supermarkt so anbietet. Aus diesen wenigen Zutaten hat er dann neue Rezepte entwickelt, die sich schnell umsetzen lassen. Mein Lieblingsrezept: Hähnchen Cassiatore. Sehr lecker.
7 Mal Anders – Jamie Oliver, Dorling Kindersley Verlag, 320 Seiten
Herzlichen Dank, dass du dir einen Moment Zeit genommen hast. Du hast bestimmt noch etwas Besseres vor, lass dich durch mich nicht weiter aufhalten. Im Oktober sehen wir uns wieder. Bis bald mal wieder und noch eine schöne Zeit.
Knuth Kung Shing Stein ist Gründungsmitglied von SoSUE und unterstützt noch weitere Marken als PR Berater und Content Curator. Er selbst beschreibt seine Arbeit als „irgendwas mit Medien“. Der Hamburger würde am liebsten auf einen Berg mit Strand ziehen. Mehr über Knuth erfahrt ihr auf seiner Website Collideor and Scope.