Der neue Monatsrückblick von SoSUE Mann Knuth ist da. Er hatte sich gefragt, wie es wohl wäre, wenn der allgemeine Wandel plötzlich an einem Tag stattfinden würde. Neue Gesetze, Innovationen und Moden kämen alle auf einmal. Keine Gewöhnungszeit mehr. Außerdem viele Tipps in Lost & Found: Ein Freibad als Schlangengrube; wie es ist, wenn dein Vater ein BND-Mitarbeiter ist und ein Ire mit Cello im Atlantikwind.
#Justdoit
Februar 2023 - Wie Rennpferde vor dem Start warteten wir auf Grün. Als die Ampel umsprang, drängelte ich mich an allen vorbei. Ich wollte schnell heim. Alle hatten es eilig. Heute wollte die gesamte Welt zu Hause sein.
Es kursierte das Gerücht, die Regierungen weltweit wollten heute den Wandel beschließen. Alle 25 Jahre kam der Wandel. Die Menschheit hatte das immer schon so gemacht. Es gab keine Übergänge. Jetzt Antike. Jetzt Renaissance. Jetzt Industrialisierung. Auch in unserem privaten Leben machten wir alles sofort. Verliebt, verlobt, verheiratet war kein Spruch. Es war eine Zeiteinheit. Meine Frau lernte ich auf einer Party kennen, am nächsten Wochenende feierten wir schon Hochzeit. Die Wissenschaft erklärte es damit, dass wir uns nur der Natur anpassen würden. Und so war es ja auch, wir wurden plötzlich Eltern, plötzlich wechselten die Jahreszeiten, es wurde plötzlich hell oder dunkel. Wir, die Tiere und Pflanzen lebten alle in einem Kippschalter-Modus. Ich persönlich glaube, dass es die einzige Möglichkeit ist, die Kontrolle über unser Leben zu behalten. Irgendwelche Wirrköpfe dagegen behaupteten, dass es eine globale Verschwörung sei, damit wir Erdbewohner nicht auf dumme Gedanken kommen.
Wie der neue Wandel aussehen würde, wusste keiner. Es gab die wildesten Vermutungen in der Presse. Außer mein Kioskbesitzer, der größte Nörgler unter der Sonne, wusste wieder alles besser: „Als der Wandel das letzte Mal kam, hatte ich nichts davon. Alles ist seitdem viel komplizierter und schlechter geworden. Ich musste nur noch mehr schuften. Die Reichen wurden noch reicher. Mit der Natur ging es kontinuierlich bergab. Und die Menschen haben mit jedem Wandel immer weniger Respekt vor einem. Meine Großeltern sagten immer, die Wandel davor, waren mehr als gut. Nie Stress. Damals ging es allen super. Der Wandel, der jetzt kommt, kannst du keinem mehr anbieten. Glaub mir!“
Tatsächlich war der Wandel für alle immer sehr stressig. Monate vergingen, bis sich alle an die neue Zeit gewöhnt hatten. Der Wandel brachte Veränderungen in allen Bereichen: neue Gesetze, unbekannte Gesichter auf den Magazintiteln, veränderte Produkte im Supermarkt, neue Straßen, mehr Fernsehsender und neue Länder auf der Weltkarte. Es war mein dritter Wandel und ich bekam Panik, dass ich es diesmal nicht packe. Als Wandel-Versager abgestempelt zu werden, konnte deine Existenz gefährden. Keine Firma stellte dich mehr ein und Freunde gingen dir aus dem Weg. „Bisher hast du dich immer gut angepasst. Du schaffst das auch diesmal", beruhigte mich meine Frau.
Rechtzeitig saßen wir beide vor dem Fernseher. Die Straßen waren menschenleer. Die Welt hielt den Atem an. Dann ging es los. Der Ablauf folgte in allen Ländern nach den gleichen Regeln. In Deutschland sprach erst der Kanzler, dann die Minister der einzelnen Ressorts, danach kamen die Kirchen, Organisationen, Verbände und Unternehmen. Meine Frau und ich schrieben alles auf die Rückseite von alten Tapetenrollen auf. Es hatte sich als praktisch erwiesen, Listen anzufertigen, um die wichtigsten Dinge in den ersten Tagen anzupassen, dafür hatten wir alle eine Woche frei bekommen. Nach ein paar Stunden waren wir sehr erschöpft. Als die Telekom ihr neues G5 Mobilnetz vorstellte, gaben wir auf. Wir konnten nicht mehr. „Puuh, diesmal ist es aber wirklich sehr viel“, stöhnte meine Frau. „Wir müssen diesmal Nachtschichten einlegen, um alles am Laufen zu halten.“
Hatte mein Kioskbesitzer am Ende recht? Ich konnte mich erinnern, dass meine Oma mir erzählte, dass ihre Wandel immer auf einem Zettel Platz hatten, und sie mussten sich um nichts kümmern. Wandel heute heißt, dass du auf alles selbst achtgeben und alles selbst erledigen musst. Früher gab es Leute, die das für dich erledigt haben, aber als mit dem letzten Wandel das Internet eingeführt wurde, verschwanden sie.
Der Wandel hatte viele neue Wörter, die ich vorher nie gehört hatte: Cyber-Abwehr, Chlorhuhn, Nutri-Score, E-Banking, E-Paper, E-Shopping, E-Mobilität, E-Government, App, Chia-Bowl, Booster-Impfung, Urban-Gardening, klimaneutral, Femboy, Deepfake, OOTD, Paypal, Narrative, Drohnenangriff, triggern, Push Back, Gendern, Instagram, Nutzerprofil, Veganer, Urburbs, Flexitarier, Hybride Kriegsführung, Vegan, Leitkultur, TikTok, FOMO, Performance, Gen Z, Momjeans, Mietpreisbremse, Fake News, Hygge, Social Bot, Tinder, Wutbürger, flexen, systemrelevant, Kopftuchstreit, Influencer, Resilienz, NFT, Undercut, WLAN, to go, Klimakleber, Alman, Deutschlandticket, Boomer-Angst, Home-Office-Pauschale, Brexit, Elternzeit, Creator, Streamen, Detox, Zeitenwende, MeTime, Gender, feministische Außenpolitik, Bitcoin, click and collect, Cyberabwehr, Prekariat, Metaversum, KI, Mediathek, Chatten, Lockdown, Veloroute, LGBT, Konnektivität, Willkommenskultur, Wellnessestate, Downer, oversized, Care-Job, Vitamin-Shoot, Work-Life-Balance, Bürgergeld, ghosten, LinkedIn, AHA-Regel, Quiet Quitting, ChatGPT, Gamer, Genderphopia, Lostalgie, Lockdown, New Glocal, Nature Engineered, Millennial, Match, New Work, Identitätsdiebstahl, Cancel Culture, Mikroplastik, Foodporn, Lifehack, Woke, Klimaflüchtling, Stealth Wealth, WTF.
Viel Englisch. Viel Technik. Wir beide verstanden nur Bahnhof. Ich wollte im Internet nachschauen, aber es war zusammengebrochen. Es war hell. Die ganze Nacht waren wir aufgeblieben. Meine Frau ging ins Bett. Ich hatte Kopfweh. Ein bisschen frische Luft würde mir guttun und ich setzte mich auf den Balkon. Überall in den Häusern waren die Menschen noch auf. Unten auf der Straße lieferten sich Jugendliche mit den neuen E-Scootern ein Rennen. Mein Kiosk leuchtete jetzt in Gelb-Rot. Er hatte sich in eine Art Postamt mit Kneipe verwandelt. Vor seiner Tür stapelten sich Pakete und dazwischen tranken die Leute ihr Bier.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie das wäre, wenn Entwicklungen langsam stattfinden würden und wir alle Zeit der Welt hätten, um uns auf die neue Situation einzustellen. Wieso lässt der liebe Gott das zu? Warum muss immer alles sofort passieren? Wie wäre es, wenn technische Innovationen und Gesetze auf andere aufbauen würden? Wir könnten uns darauf vorbereiten und es wäre für alle nachvollziehbar. Wäre es nicht besser, wenn der Frühling über Wochen dauern würde? Ich stellte mir vor, wie es mit jedem Tag immer etwas heller und wärmer werden würde. Die Blumen kämen nach und nach. Wir könnten uns in Ruhe mit den warmen Temperaturen anfreunden. In einer Welt, in der nicht von hier auf jetzt alles geändert wird, müssten die Menschen viel entspannter, friedlicher und vernünftiger sein.
Die Überlebenden von Mariupol
In der Dokumentation erzählen TV-Moderatorin Alevtina, Anästhesistin Oksana, Schauspieler Sergey und Lehrerin Hanna über ihre dramatischen Erfahrungen, die sie während des russischen Angriffs auf Mariupol gemacht haben. Mit ihren Smartphones haben sie das Leid, aber auch die Tapferkeit festgehalten. Eine sehr packende Dokumentation. Das Drama um die Stadt habe ich noch gut im Gedächtnis, es erinnert mich immer wieder daran, dass sich diese Tragödie auch in anderen ukrainischen Städten und Dörfern wiederholt. Die russische Armee zerstört weiterhin rücksichtslos Häuser, Krankenhäuser oder Bahnhöfe und nimmt den Tod vieler Zivilisten dabei in Kauf. Nach einem Jahr Ukraine-Krieg ist das ein wichtiger Film, um sich wieder bewusst zu machen, warum wir die Ukraine weiter unterstützen müssen.
Die Überlebenden von Mariupol – Verfügbar in ARTE-Mediathek
Solace
Leider spiele ich kein Instrument, aber wenn ich könnte, würde ich mir Cello beibringen. Der Klang ist wie eine Umarmung für mich und erinnert mich an einen nebligen Frühlingsmorgen. Auf Twitter habe ich den Cellisten Patrick Dexter entdeckt. Der saß im Norwegerpullover vor seinem Häuschen mit gelben Fenstern und spielte Mozart, Bach und irische Lieder. Patrick wuchs mit seinen sieben Geschwistern in Dublin auf und spielt seit seiner Kindheit Cello. Während des Lockdowns begann er mit seinen Open-Air-Konzerten. Er lud die Videos erfolgreich auf YouTube hoch. Jetzt hat er sein erstes Album mit irischen Liedern eingespielt. Der eine oder andere Vogel zwitschert im Hintergrund mit. Stört mich aber nicht. Sehr schön.
Solace – Patrick Dexter verfügbar auf Apple Music und Spotify
Das Geheimnis meines Vaters
"Im Geheimdienst Ihrer Majestät" von 1969 verliebt sich James Bond in die Gräfin Teresa "Tracy" di Vicenzo und heiratet sie am Ende des Films. Kurz nach der Hochzeit wird Tracy von Bonds Erzfeind Blofeld ermordet. Wäre es anders gekommen, würde der Geheimagent seiner Majestät nach Feierabend bei seiner Familie sein. Das Leben eines Geheimagenten ist in der Wirklichkeit auch nicht mit einem 007-Dasein zu vergleichen. Für eine Familie mit Agentenvater kann es dagegen schon ein wenig Unruhe bedeuten. Corinna von Bassewitz hat ihren Vater enttarnt, der jahrelang für den BND spionierte. Sie schildert, wie er als Hilfsreferent Operationen plante oder KGB-Agenten umdrehte und sich gleichzeitig um seine Kinder kümmern musste. Familiengeheimisse sind doch manchmal schwerer zu lösen als Staatsgeheimnisse. Es kann Jahre dauern. Eine etwas andere Agentengeschichte aus dem kalten Krieg. Es ist amüsant zu lesen, wie eine Heranwachsende den Vater und seine Arbeit wahrgenommen hat.
Das Freibad
Ich habe mal bei Frauenzeitschriften gearbeitet. Wie hier Frauen über Kolleginnen und Kollegen hergezogen haben, verschlug mir manchmal die Sprache. Viele böse Kommentare über Frauen kamen von Frauen. In dem Doris Dörrie Film „Freibad“ ist es nicht anders. In einem Frauenbad ziehen dicke, dünne, alte, junge, ausländische, deutsche und muslimische Frauen übereinander her, als würde es kein Morgen geben. Von wegen „Sisterhood“, dieses Freibad ist eine Schlangengrube. Mit viel Humor und Komik zeigt der Film die Probleme zwischenmenschlichen Zusammenlebens auf. Der Knaller sind die Darstellerinnen. Meine Liebling-Läster-Freundinnen sind Eva (Andrea Sawatzki) und Gabi (Maria Happel), die aber auch nichts auslassen, um zu lästern. Sehr komisch. Der Sommer kann kommen.
Freibad – Verfügbar auf Apple TV, Amazon Prime und Google Play
Das wird bestimmt ganz toll
Wenn ich groß bin, dann....glotze ich den ganzen Tag Handy steht da im Kinderbuch. Jetzt bin ich groß und tatsächlich, ich glotze viel auf dem Handy, außer ich schreibe hier diese monatliche Kolumne. Kinder wünschen sich viele Sachen, wenn sie mal groß sind, dazu gehört sicherlich auch ohne Ende aufs Handy zu glotzen. Aber zwischen den Seiten finde ich auch andere Dinge, wie Frieden, sich um die Erde kümmern oder fliegende Schwimmbäder erfinden. Das Buch ist voller verrückter und vernünftiger Ideen, die Lust auf die Zukunft machen. Alle sind sehr liebevoll illustriert. Ein Buch für Erwachsene und Kinder. Beim Durchblättern habe ich eine andere großartige Idee gefunden: Sich treiben lassen! Wenn es das mal als Beruf geben sollte, melde ich mich freiwillig. Ganz sicher.
Das bestimmt ganz toll – Labor Ateliergemeinschaft, 160 Seiten, Beltz Verlag
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Vielen Dank für deine Zeit. Ich hoffe, du genießt den Frühling. Es ist jedes Mal wieder faszinierend, wenn die Natur aus ihrem Winterschlaf erwacht. Nächsten Monat gibt es einen neuen Lost & Found. Wir sehen uns Anfang Mai. Bis bald und mach dir schöne Tage.
Knuth ist Gründungsmitglied von SoSUE und unterstützt noch weitere Marken. Er selbst beschreibt seine Arbeit als „irgendwas mit Medien“. Der Hamburger würde am liebsten auf einen Berg mit Strand ziehen. Mehr über Knuth erfahrt ihr auf seiner Website Collideor and Scope