Der Tag, an dem meine Tochter auszog

 

Kinder werden groß und gehen ihre eigenen Wege. Wie es sich anfühlt, wenn die Tochter das Haus verlässt, um in einer anderen Stadt zu studieren. Ein einfühlsamer Bericht von Karina Lübke über das Loslassen.

 

Von Karina Lübke

Gestern noch waren wir eine normale, eingespielte Familie: Mutter, Tochter, Sohn. Die Große hatte gerade Abitur gemacht und anschließend Praktika an verschiedenen Krankenhäusern absolviert, um sich auf ihr Medizinstudium hier in Hamburg vorzubereiten. Ich dachte, sie würde irgendwann ausziehen, aber vielleicht einmal die Woche zum Umarmen, Essen und Erzählen vorbeikommen. Auf den sanften Entzug meiner Bemuttergefühle war ich also vorbereitet. Auf deren fristlose Kündigung allerdings nicht.

Mit einer mail für sie brach der schlimmste Liebeskummer meines Lebens aus wie eine Seelengrippe: Es war die erhoffte Zusage für einen Studienplatz in Medizin - allerdings in Heidelberg. WAS? Mein Kind, sensibel, idealistisch, fest entschlossen immer ihr Bestes zu geben und an das Gute in Jedem zu glauben, sollte allein in die Wildfremde ziehen, über sechs Stunden Fahrzeit von mir entfernt? Sie war außer sich vor Freude. „Ganz herzlichen Glückwunsch! Das ist ja phantastisch, Schatz!“ rief ich. Während sie ihre Freundinnen anrief, verzog ich mich unauffällig in mein Schlafzimmer, denn die Tränen liefen mir aus den Augen wie aus einer lecken Leitung direkt aus meinem Herzen. Sie brach auf zu neuen, fernen Ufern, ich blieb im Heimathafen zurück. Künftig wäre unser Zuhause nur noch ihr Erholungsheim in den Semesterferien.   

Diesen Moment, wenn man mit seinem ersten Baby im Arm und den besten Wünschen für die Zukunft aus der Geburtsklinik entlassen wird - jede Mutter hat ihn wohl überscharf in Erinnerung. Ebenso wie ein Gefühl von Fassungslosigkeit: Hilfe! Wie soll man es ab sofort ohne professionelle Hilfe in Rufweite schaffen, aus diesem winzigen, rätselhaften, zerbrechlichen Säugetier einen echten erwachsenen Menschen zu machen? Der irgendwann sogar für sich selber sorgen kann? Bis dahin trägt man die volle Verantwortung, rund um die Uhr. Wird man je wieder ohne das Kind aus dem Haus gehen können? Unvorstellbar!

 

"Man könnte meinen, ich hätte wirklich genug Zeit gehabt, das Kommen zu sehen, aber es traf mich trotzdem unvorbereitet, mitten ins Mutterherz."

 

Der zweite unvorstellbare Moment kommt, wenn es dann plötzlich soweit ist. Nicht nur, dass man ohne das Kind aus dem Haus gehen kann: Das Kind geht aus dem Haus - und zwar ohne einen. Es sagt auch nicht, wann es wieder da sein wird. Man könnte meinen, ich hätte wirklich genug Zeit gehabt, das Kommen zu sehen, aber es traf mich trotzdem unvorbereitet, mitten ins Mutterherz. Schlagartig fühlte ich mich zwanzig Jahre gealtert.

Was war ich genervt gewesen, wenn beide Kinder sich stritten oder ihre Sachen überall liegen ließen. Hatte davon geträumt, endlich wieder mehr Ruhe und Zeit zu haben. Wie eng unsere Leben tatsächlich ineinander verwachsen waren, das fühlte ich jetzt. Nachts schlich ich wie eine Stalkerin in ihr Mädchenzimmer, nur um sie friedlich atmen zu hören. Eines Abends schauten wir zusammen auf unserem Kuschelsofa den Film „Mamma Mia“ und als Meryll Streep den ABBA-Song „Slipping Through My Fingers“ performte, den Björn und Agnetha einst für ihre gemeinsame Tochter Linda getextet und gesungen hatten, bekam ich vor unterdrücktem Schluchzen kaum noch Luft. Unsere gemeinsame Zeit lief ab.

Langsam ging ich mit der Heulerei nahezu professionell um. Achtete darauf, genug Wasser zu trinken, um nicht auszutrocknen. Versuchte, mich abzulenken. Fuhr alleine in die Innenstadt, um mir etwas Gutes zu tun. Oh, dieses T-Shirt ...das würde ihr auch gut stehen... ach, hier, an dieser Eisdiele haben wir immer Pause gemacht, sie würde jetzt sicher Quark-Holunder nehmen...Oooookay, schon ging es wieder los. Resigniert stülpte ich meine Sonnenbrille über meine tränenfeuchten Augen und fuhr nach Hause.

Ich rief Freundinnen an, deren Töchter und Söhne bereits aus dem Haus waren und denen ich Idiotin damals aufmunternd gesagt hatte: "Freu dich doch! Erinnere dich auch mal, wie sehr dein Kind dich die letzten Jahre gestresst hat!".

Jetzt heulte ich reumütig: " Tut mir leid! ich hatte ja keine Ahnung..."

Sie verziehen mir und erzählten Geschichten aus der Schwesternschaft der leeren Nester. "Ach, als ich sein Zimmer damals neu gestrichen habe...die Farbe im Eimer war literweise mit Tränen verdünnt!", seufzte die eine. Die andere meinte es wahrscheinlich gut, als sie mitfühlend sagte: "Du Arme, es ist bestimmt noch schlimmer, wenn man alleinerziehend ist und keinen Ehemann dabei an seiner Seite hat". Danke!

Endlich machte ich einen Gesprächstermin bei einer Therapeutin. Während ich ihr mein Problem schilderte, relativierte ich es sofort entschuldigend: "Verzeihung, ich weiß natürlich, dass meine Reaktion absolut übertrieben ist, aber..."

"Ja, aber Ihr Baby verlässt Sie! Und das IST erst einmal schrecklich!", rief die Therapeutin. Sie griff nach einem der auf dem Couchtisch gestapelten Taschentücher: "Das erinnert mich so daran, als meine Tochter mit 19 für ein Jahr nach Südamerika ging..." Ich griff mir ebenfalls ein Taschentuch und bekam für mein Geld immerhin den Trost, dass es völlig normal ist, auch mal untröstlich zu sein. Das würde sich zurechtwachsen.

 

"Ich sah ihr nach, wie sie mit dem neuen Schlüssel die neue Tür zu ihrem neuen Leben aufschloss und darin verschwand"

 

Meine Arbeit schaffte ich kaum, meine Gedanken kreisten nur noch um den Auszug. Auch, weil wir schnellstens ein Zimmer für sie finden und den Umzug organisieren mussten. Die Nerven lagen blank, bis überraschend die Zusage für einen Platz im Studentenwohnheim eintraf. Ihre Freundinnen kamen zu Besuch, um sie zu verabschieden: Große Mädchen, deren Leben sich seit dem Kindergarten begleitet hatten. Ich hörte alle in ihrem Zimmer zusammen lachen und vermisste es jetzt schon. Drei Tage vor Semesterbeginn bepackten wir das Auto mit ihren Kisten, Koffern und dem Teppich und fuhren die A7 Richtung Süden. Endlich ging es los, das tat gut. Das ganze Wochenende schien die Sonne und ihr Zimmer war überraschend modern, groß und hell. Wir erkundeten die Gegend, kauften Putz- und Lebensmittel, wischten, räumten und richteten alles gemütlich ein. Dann fuhren wir herum, um uns die Uniklinik und die Stadt anzugucken.

Schließlich brachte ich sie zu ihrem neuen Zuhause zurück. Parkte vor der Tür und stellte den Motor aus. Jetzt war er da, der Moment des Abschieds, vor dem ich am meisten Angst gehabt hatte, weil ich nicht sicher war, ob ich meine Tochter mit Anstand und einem Lächeln aussteigen, und von mir und ihrer Kindheit weggehen lassen könnte. Seit Anbeginn der Menschheit gaben Eltern den Kindern ihren Segen, wenn diese sie verließen. Durch meinen Kopf rasten sämtliche Ratschläge, Bitten, Mahnungen und Altersweisheiten: Mein Schatz, mein Herz! Ich wünsche Dir alles Glück dieser Welt. Bleib offen und hilfsbereit – aber bitte sei nicht naiv. Pass gut auf dich auf, ich kann es ja nicht mehr. Verliebe dich nur in Männer, die tun, was sie sagen. Nimm im Dunkeln immer die Pfefferschusspistole mit, die ich dir gekauft habe. Wenn du mich brauchst, ruf´ mich an und ich komme, Tag und Nacht. Und zieh dich immer warm genug an. Aber hab auch mal mehr Spaß als vernünftig wäre. Genieß dein Leben, lass dir Zeit, du bist noch so jung...  

Rechtzeitig fiel mir auf, dass ich ihr das alles schon auf der Hinfahrt, als sie mir nicht weglaufen konnte, hundertmal gepredigt hatte. Und da sagte ich einfach den kleinen, aber magischen Satz, der alle anderen zusammenfasste: „Ich liebe Dich!“.

In ihrem Blick sah ich, dass sie mich verstanden hatte. Sie antwortete: „Ich liebe Dich auch. Danke – für alles“. Und in ihrem „alles“ sah ich sämtliche durchwachten Nächte, Umarmungen, Geburtstage, gemeinsamen Essen, Fahrten, Feiern, Abschlüsse und Erlebnisse noch einmal als Schnellfilm vorbeiziehen. Dann stieg sie endgültig aus. Ich sah ihr nach, wie sie mit dem neuen Schlüssel die neue Tür zu ihrem neuen Leben aufschloss und darin verschwand.

Ich startete den Motor und fuhr nach Hamburg zurück, mit leerem Auto und leerem Kopf. Es regnete die ganze Strecke, das passte. Ich selber hatte keine Tränen mehr. Alles war gut so. Ich war stolz auf sie, auf mich - und dankbar. Laut sagte ich: "Großes, wunderbares, schreckliches Leben – du darfst jetzt übernehmen, ich vertraue sie dir an. Aber solltest du sie je schlecht behandeln, werde ich da sein, um dir in den Arsch zu treten".

 


 

Karina studierte erst Design, machte ein Diplom in Mode und absolvierte dann bei Wolf Schneider die Hamburger Journalistenschule. Sie wurde anschliessend Redakteurin und Kolumnistin bei TEMPO und schrieb dann freiberuflich für einige Magazine. Ihre monatliche Kolumne "Bitte recht feindlich" in der Zeitschrift BARBARA hat eine große Fangemeinde und ist als Buch erschienen. Zwischendurch heiratete sie, zog eine Tochter und einen Sohn groß. Mehr erfahrt ihr hier.

 

Ihr neues Buch „Bitte recht feindlich“ ist jetzt im Buchhandel erhältlich. Es geht um Kerle und Kinder und kindische Kerle, um Politik, Gesellschaft, Geld und gute Worte. Und um Liebe – trotz allem. Dieses Buch fasst ihre besten Kolumnen aus der Zeitschrift BARBARA zusammen und enthält neue, bisher unveröffentlichte Texte.

 

 


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