Neulich war ich auf der Durchreise in meiner Heimatstadt Wolfsburg. Mein Vater lebt dort noch und bat mich ihn zu besuchen. Wie fühlt sich das an, wenn man gefühlte 10 Jahre nicht mehr da war? Wolfsburg – die aufstrebende Stadt hieß es damals, als ich ein Praktikum bei den Wolfsburger Nachrichten gemacht habe und über Kyffhäuser Versammlungen in Vorsfelde oder über die Wünschelrouten-Gänger in Velstove schrieb. Dort lebte auch meine Omi, mit der ich die schönsten Outfits für meine Monchichi-Sammlung kreierte. Ich entwarf und sie nähte. Später kamen Strick-Pullis dazu. Nach meinen Vorstellungen treib ich sie nach getaner Arbeit an, Runde um Runde an meinen Wollmonstern zu Stricken. Das Haus meiner Omi war wie eine riesengroße Puppenstube – überall stand Nippes und Souvenirs von ihren Reisen rum. Mein Schönstes: Ihren Setzkasten durcheinander zu bringen und wenn sie mir meine geleibten Marillenknödel machte – mit Butterbrösel! Damals war Wolfsburg für mich das Größte. Klar, ich war ja auch klein. Die 4 Schornsteine des VW Werkes wirkten auf mich, wie das World Trade Center und immer, wenn wir am Schloss Wolfsburg vorbeifuhren, musste mein Vater sich Geschichten über eine imaginäre Prinzessin ausdenken. Ich liebte diese Touren durch die Stadt mit ihm – auch wenn ich oft stundenlang auf ihn warten musste, weil er noch mit Kunden schwatzte. Immer war er zu spät – erstaunlich mit welch einer Geduld (ich war ein Zappelphillip) ich das ertrug. Aber ich kam viel rum in dieser Stadt, die wie eine Retorte aus dem Boden gestampft wurde. Ich wuchs auf mit Roberto, Ennio, Angelina und Ayhan – Gastarbeiter Kinder aus der Türkei und dem Süden Italiens. Wir waren eine multi-kulti Bande und versteckten uns in Laubbuden und rauchten Graszigaretten. Meine erste Ausgrenzung erfuhr ich, als meine Eltern sich scheiden ließen - damals dachten man wohl, das wäre ansteckend und ich weiß noch, das ich vor dem Haus meiner besten Freundin Sabine stand, nicht mehr rein durfte und die Welt nicht mehr Verstand. All das fiel mir wieder ein, als ich jetzt den Klieversberg hochjoggte und die modernen Townhouses für die Ein-Familien bewunderte. Unsere Bude existierte immer noch – jetzt wohl von anderen Kids besetzt und die Eltern meiner erste Grundschul-Liebe wohnten immer noch am Waldesrand. Er hieß André und ich habe mir wochenlang einen sinnigen Spruch für sein Poesiealbum ausgedacht. Mein bester Freund aber hieß Thomi und war der Nachbarsjunge. Heimlich kletterten wir immer über die Mauer, die unsere Balkone voneinander trennten. Wir spielten dann mit Autos oder aßen (ähnlich wie Petzi Bär) schichtweise Pfannenkuchen. Apropos Schicht: Wirklicher Verkehr herrscht in WOB nur, wenn Schichtwechsel ist. Dann hört man für eine gute Stunde ein Grundrauschen in der Stadt und fühlt sich, wie in einer echten Metropole. Als ich Thomi das letzte Mal sah, schraubte er in der Garage nebenan an irgendwelchen Autos rum – als ich jetzt meinen Vater besuchte, war es haargenau die gleiche Szene. Er sagte, „Hallo Suie (nur er durfte mich so nennen) was machst Du so?“ Eine rhetorische Frage, dachte ich mir, denn in einer Kleinstadt, weiß doch immer Jeder über Jeden Bescheid und mein Vater wird wohl berichtet haben... . Dieses Bild ihn dort zu sehen, als ob die Zeit stehen geblieben wäre, gab mir einen Stich im Herzen und ich malte mir aus, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich in Wolfsburg geblieben wäre. Vielleicht wäre ich in der Marketing-Abteilung des VW – Werkes gelandet oder – höchstwahrscheinlicher – Testfahrerin für Proto-Typen auf der Ehra-Lessin (das Versuchsgelände der Volkswagen AG). Thomi wollte nie weg – auch nicht in den Urlaub oder sonst wohin. Ich aber wollte immer raus und die Welt sehen und oft packten meine Omimi und ich unsere Koffer und zuckelten los: Marbella, Mallorca, Kuba, Dom Rep., Livigno oder Sylt. Mit meiner Omi konnte ich im Hühnerstall Motorrad fahren – sie war für alle Abenteuer bereit.
Als meine Mutter mit mir– der Liebe wegen - nach Hamburg zog, kam ich seltener und irgendwann gar nicht mehr.
Es hat sich nicht viel verändert dort in der Heimatstadt, außer dass mir alles viel kleiner vorkommt. Wirklich groß ist in Wolfsburg nur das Werk und das VFL-Stadion und wirklich was los, war immer nur was auf dem Bahnsteig zu Beginn der Werksferien, wenn die italienischen Gastarbeiter mit Sack und Pack und Vogel Volieren den Wolfsburger Bahnsteig in Palermo verwandelten oder die IG-Metall zu Kundgebungen aufriefen. Die Türken fuhren immer mit dem Auto. Mit großen Augen lauschte ich Ayhans Schilderungen, wenn er erzählte, dass sein Vater einfach einen Ziegelstein aufs Gaspedal legt, damit er mal fünf Minuten die Augen schließen konnte auf der langen Fahrt an den Bosperus. Ja, das alles fiel mir wieder ein, als ich jüngst neben meinem Vater im Auto saß und wir durch die Stadt fuhren. Irgendwann endete die Fahrt auf dem Waldfriedhof. Das Grab meiner Großeltern stand auf der riesigen Pazelle fast allein (alle anderen waren schon eingeebnet) und mein Vater erklärte mir ganz sachlich, wie lange das Grab noch läuft, dass er eine Seebestattung wünscht, damit ich mich um nichts kümmern muss. Schlagartig wurde mir bewusst, dass dieser Trip in die Vergangenheit etwas mit der Zukunft zu tun hat. Mein noch leerer Magen fühlte sich auf einmal ganz flau an und ich wehrte mich gegen das Gefühl der Endlichkeit. Später erklärte er mir noch, wo alles liegt, wenn er nicht mehr ist und das ohnehin schon recht graue Wolfsburg wurde noch trostloser. Ich war fast erleichtert, als ich am nächsten Tag wieder los konnte. Wolfsburg in Zeiten Corona – alles andere als ein bezauberndes Wintermärchen.
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