Das Jahr der Entfremdung

 

Für die Autorin Karina Lübke war das bisherige Corona Jahr nicht nur Monate der Entfremdung, sondern auch Monate der Entfreudung. Die Pandemie nagt an den Nerven. Wie sich diese Welt für sie jetzt anfühlt und wie es ihr dabei geht, hat sie für SoSUE aufgeschrieben.


 

Es ist im Jahre zwei nach Corona. Eine meiner ältesten Freundinnen hatte ich länger weder gesehen noch gesprochen. Jetzt telefonierten wir seit einer guten Stunde, Festnetz, old school, und waren gerade richtig in Schwung, als sie plötzlich inbrünstig sagte: "Danke, dass du immer noch Du bist!". Ich wusste leider sofort, was sie meinte. "Ja, ich bin auch froh, dass du immer noch Du bist", sagte ich, "momentan weiß man echt nie genau, wen man am anderen Ende der Leitung hat, auch wenn man dachte, die Leute gut zu kennen. Das ist so gruselig".

2021: Das Jahr der Entfremdung. Leider oft auch das der Entfreundung - ob auf Social Media oder bei persönlichen Bekanntschaften. Auf meiner Distanzkarte stehen bereits etliche Namen, die ansonsten vielleicht sogar auf meiner Partyeinladungsliste gestanden hätten, wenn auch ziemlich weit unten. Richtig gute Freunde habe ich zum Glück bisher nicht verloren. Aber einige aus meinem Leben entfernt, die plötzlich Dinge und Meinungen ´raushauten, die ich bei Ihnen und insgesamt überhaupt für undenkbar gehalten hätte.  Etwa die Facebook-Bekannte, die mir über Privatnachricht die frohe Nachricht überbringen wollte, dass es Corona "in Wirklichkeit" gar nicht geben würde: Alles Fake, um uns zu verängstigen, einzusperren und zu manipulieren! Aber zum Glück würde gerade - soviel dürfte sie mir verraten -  Donald Trump die "weißen Truppen" um sich sammeln, die sich seit dem Tod  Kennedys im Untergrund formiert hätten, um die freie Welt zu retten. Noch dieses Jahr. Könnte man alles im Internet recherchieren.

Plötzlich merkte ich: Das war kein Witz. Mir fehlten die Worte. Dann trat ich sehr vorsichtig von dem psychischen Abgrund, der sich da gerade geöffnet hatte, zurück. Quantentheorie hin oder her, das war jetzt eindeutig eine alternative Wirrklichkeit zu viel.  "Ich denke, wir haben hier keine Gesprächsebene. Alles Gute" formulierte ich vorsichtig. "Ja, halt mich nur für verrückt! Du wirst schon sehen, dass ich Recht habe!", schrieb sie mir noch hinterher, ehe ich sie blockierte und löschte.

Und dachte wieder mal mein Mantra OM - Ohne Mich!

Die große Erschöpfung, die Aggressionen, die langweiligen Routinen, die kollektiven Verwirrung: Fallen nur mir überall hängengebliebene Ostereier in Vorgärtenbüschen auf, bei deren Anblick ich mich kurz erschrocken frage, ob Ostern eigentlich schon war oder noch kommt? Welches Jahr ist es gleich noch mal und welche Jahreszeit? Die festen Strukturen durch Feste und Ferienreisen, Veranstaltungen und Einladungen, die das stabile Knochengerüst jedes Jahres sind, ob es sich darüber nun mager oder fett an Erlebnissen gestaltet, hat Osteoporose. Realitäten bröckeln. Nie fand ich "Stabilität" mehr sexy als heute. Das alles läuft schon viel zu lange so - und viel zu viel läuft völlig falsch. Im Großen wie im Kleinen, vom irren Pandemie-Management der Regierung bis zum alltäglichen Einkauf im Supermarkt.

Immerhin kann ich hinter meiner FFP2-Maske nonverbal mittlerweile ein derart differenziertes Repertoire an Missbilligung ausdrücken, ich könnte der größte post-pandemische Stummfilmstar werden, sollte das je wieder gefragt sein! Momentan bin ich echt froh, dass kein Botox die mimische Ausdruckskraft meiner oberen Gesichtshälfte einschränkt. Klassiker wären da etwa "Der eiskalte Abstandhalter-Blick mit hochgezogener Augenbraue", "Zusammengekniffene Augen mit steiler Zornesfalte", die "Abrupte Umdrehung mit abwehrend ausgefahrener Hand", das "verächtliche Kopfschütteln mit verärgertem Schnauben" und natürlich "Genervtes  Augenverdrehen mit deutlichem Fingerzeig auf die Abstandstriche im Kassenbereich", die viele mittlerweile für einen rein dekorativen Bodenbelag  zu halten scheinen. Meistens reicht diese Dramaturgie. Aber ungefähr jeden dritten Tag eben nicht und dann reicht es mir, aber so richtig. Dann packt wieder mal jemand hinter mir forsch seine Einkäufe gleich zu meinen auf das Kassenband, obwohl ich diese noch nicht mal alle aus dem Wagen genommen habe. Der Typ stand dabei keine Babyarmlänge von mir entfernt. Mein genervtes Schnauben und der böse Blick glitten an dem Mann im Ignoranzmantel völlig ab. Also sagte ich es doch: "Würden Sie bitte zurücktreten und Abstand halten? Sie sind garantiert nicht schneller dran, wenn Sie mich hier so bedrängen!". Darauf guckte der Kerl, als ob ich total bescheuert wäre, trat aber immerhin einen Anstandsschritt zurück. Zügig räumte ich nun meine restlichen Einkäufe auf das Kassenband.  Aber weil Männer sich nun mal nicht maßregeln lassen, ohne das letzte Wort zu behalten, sagte er dann noch laut: "Warum muss man sich so aufregen? Es ist doch alles gut!". Ich drehte mich abrupt wieder zu ihm um. "OH, ES IST ALLES GUT? ECHT? IST DIE PANDEMIE ETWA VORBEI UND ICH DUMMCHEN HABE ES EINFACH NOCH NICHT GEMERKT?". Ich warf dramatisch beide Arme in die Luft. " "HALLELUHJAH! LASST UNS FEIERN! WOLLEN SIE DIE GUTE NACHRICHT NICHT MIT ALLEN TEILEN?".

So, endlich hatte ich genug Platz um mich herum. Ungestört packte ich meine restlichen Sachen auf das Kassenband, bezahlte und verließ den Laden. Äußerlich gelassen, innerlich nachbebend. Verdammt, wie lange wird das noch so weitergehen? Was, wenn man sich nicht mehr darauf freuen kann, dass bald "die Normalität" zurückkommt? Was, wenn DAS die neue Normalität ist?  Sogar bis ins Unterbewusstsein ist Corona seit letztem Februar durchgesickert: In meinen Albträumen fällt mir plötzlich mit Schrecken auf, dass ich im Supermarkt stehe und meine Maske vergessen habe - die zeitgenössische Variante des klassischen "Plötzlich merke ich, dass ich in der Öffentlichkeit nackt bin" -Traumes. Oder die anderen Leute in meinem Traumszenarien tragen mittlerweile ganz selbstverständlich Masken. Es ist, als hätte man so lange in einem fremden Land gelebt, dass man beginnt, in dessen nun vertrauter Sprache zu träumen. Damals in England fand ich das toll. Bei Corona bin ich einfach nur entsetzt. Ich frage mich, ob das anderen auch so geht und ob das je wieder weggehen wird. Auf dem Fluchtweg nach Hause kam ich an einem Spielzeuggeschäft vorbei und blickte automatisch ins Schaufenster, auf der Suche nach etwas Süßem, Stimmungsaufhellendem.  Meine Güte, seit wann sahen eigentlich sogar Kuscheltiere derart deprimiert aus?

Das fast einzig Gute am Erwachsensein ist ja, dass man irgendwann glaubt, verstanden zu haben wie die Welt im Grunde funktioniert. Jedenfalls genug verstanden, um sich ein halbwegs erfolgreiches Leben in seinem kleinen Winkel des Universums schaffen zu können. Sich selber und die, die man liebt, in Sicherheit zu wiegen.  Jetzt gibt es kaum noch Sicherheiten, höchstens das Abwägen von Risiken gegeneinander. Wir sind hier mittlerweile Profis im Selbsttesten. Meine Tochter, die ich seit Weihnachten nicht gesehen habe, rief mich an und erzählte, dass sie vor dem Praktikum in der Notaufnahme wie alle Medizinstudenten mal eben spontan geimpft worden wären. Ich war erleichtert, dann fragte ich vorsichtig: "Mit was denn? "Mit AstraZeneca. Das Wochenende ging es mir echt ziemlich mies, aber jetzt ist alles okay". Mir liefen trotzdem sofort Tränen über das Gesicht. Wieso AZ, bei einer so jungen Frau? Gab es da nicht neue Studien....? Nur eine Woche später wurde der Impfstoff dann nur noch für Ü-60 empfohlen. Machte ich mir Sorgen um sie und ihre Hirnvenen? JA! War ich beruhigt, dass sie wenigstens im Krankenhaus ETWAS Impfschutz hatte? JA!

Man kann diese permanenten Paradoxe gerade nicht auflösen, man kann sie nur aushalten. Wie ich mir Klarheit wünsche! Meine Lebensfreude liegt oft flach und meine Konzentration hat einen Wackelkontakt. Das soll aber normal sein: "Languishing", ein psychischer und emotionaler Stand-By-Zustand zwischen den Polen Lebensfreude und Depression soll laut der New York Times jetzt schon das Lebensgefühl 2021 sein. Es mangelt an Vorfreude auf die Zukunft. An positiven Visionen. Wer heutzutage nach den Sternen greifen will, muss sich schon bücken und seine Hand auf die Erde legen. Manchmal fahre ich dann einfach für ein paar Stunden ans Meer. Atmen. Laufen. Wind im Gesicht. Sand in den Händen und Schuhen. Tiefer Atmen. Weitersehen.

Ich hatte immer die Fähigkeit und Hochsensibilität, ein Stück weit in die Zukunft gucken zu können, Trends und gesellschaftliche Veränderungen vorauszuahnen, das ist die Grundlage meines Berufes. Jetzt fliege auch ich seit Monaten auf Sicht durch den Brain Fog und weiche Hindernissen und Klippen ruckartig aus. Nur langsam erscheint endlich mit sinkenden Inzidenzen und steigender Sonne ein Silberstreifen am Horizont. Ich kann trotzdem nicht glauben, dass wir immer noch nicht weiter sind - wo man doch eigentlich so viel mehr weiß, so viele internationale Erfahrungen zur Hilfe nehmen könnte. Überhaupt, wo bleibt das große globale Learning? Das bessere Verständnis füreinander, die Solidarität miteinander, das Mitgefühl? Das Gegenteil scheint der Fall. Um sozial zu sein, braucht es nach neuen Studien ein echtes Sozialleben, Kontakte mit richtigen Menschen. Das trainiert Empathie, inspiriert, regt die Lebenskraft an. Dagegen über längere Zeit isoliert, beginnt man sich die selbstverständliche Mitmenschlichkeit zu entziehen, bis man den Mangel oder das Bedürfnis danach kaum noch mehr spürt. "FOGO" - Fear Of Going Out heisst die Sorge vor einer Wiederbegegnung in und mit der Normalität. Manchmal fürchte ich, das einzige, was uns "nachher" einen wird, könnte eine posttraumatische Belastungsstörung sein. Auch und vor allem die Kinder. Von einer Freundin hörte ich, dass ihr zehnjähriger Sohn zum ersten Mal seit November in seine Schule zurückkehren durfte, er war völlig außer sich vor Aufregung und Freude, alle wiederzusehen - nur um dann in der dritten Stunde eine notenrelevante Mathearbeit zu schreiben. Wie irre ist das bitte? Scheiß doch auf Noten, vergesst dieses total verkorkste "Schuljahr", tut doch bloß nicht so, als könne das alles normal durchgezogen werden, weil einfach nichts normal ist - und das deutsche Schulsystem zudem schon vor Corona längst nicht mehr zeitgemäß war. Wieso wird diese Zäsur durch die Pandemie nicht weltweit als Chance für ein grundlegendes Update genutzt?

Ich habe das Gefühl, einen Massen-Marathon zu laufen, für den ich mich nie angemeldet hatte. Gefühlt sind wir mittlerweile bei Kilometer 58, weil das Ziel immer weiter verschoben wird. Stehenbleiben bleiben ist aber auch keine Option. Wenn du durch die Hölle gehst, geh immer weiter: Weiter mit Abstand einkaufen, weiter spazieren, weiter in Kreisen denken, weiter Vorfreude und Erwartungen niedrig halten, damit es nicht so weh tut wenn "die Situation" sie dann doch cancelt. Im letzten Jahr habe ich nach dem ersten Schock der massiven Veränderungen noch Energie und Motivation gehabt  - hey, das schaffen wir. Nächstes Jahr wird toll! Von diesem tapferen "Wird schon wieder"-Schwung und der Vorfreude auf die Zeit danach ist wenig geblieben. Aber wenigstens bin ich diesmal nicht selber schuld, wenn meine guten Silvester-Vorsätze und Wünsche für das neue Jahr nichts werden: Ende März kam mein neues Buch "Bitte Recht Feindlich" auf den Markt, ein großer Grund zur Freude, abgesehen davon, dass es kaum noch einen Markt gab. Eigentlich war vom Verlag geplant, es auf der Leipziger Buchmesse groß vorzustellen, mit Lesungen, Signierstunden, und Publikumsgesprächen. Ich konnte es kaum erwarten. Dann wurde die Buchmesse sicherheitshalber verschoben. Etwas später wurde sie abgesagt. Hatte ich dafür Verständnis? JA! War ich trotzdem total enttäuscht? JA! Außerhalb von Berlin hatten zudem fast alle Buchläden geschlossen. Es könnte besser laufen.

Mir ist völlig bewusst, dass es mir im Vergleich "zu vielen anderen" immer noch gut geht.. Wie auch bei der Impfpriorität falle ich bei der Übel-dran-sein-Priorität nicht in die ersten drei Kategorien. Doch der permanente Anspannungszustand hatte mir für eine Weile tatsächlich hohen Blutdruck beschert, MIR, die ich seit Jahrzehnten bei Vorsorgeuntersuchungen immer  "etwas niedrig, aber das kennt man ja bei Ihnen" kassiert hatte. "Warum?!" rief ich empört "Ich habe nicht eins der Risiken: Ich bin nicht übergewichtig, ich habe nie geraucht, ich mache Wechselduschen, ich esse halbwegs gesund und ich trinke sogar seit fast einem Jahr keinen Alkohol! Ist das der Dank? Erklären Sie es mir!". Der Arzt überlegte und diagnostizierte: "Das haben gerade viele. Es ist... die Situation. Sie sollten sich mehr entspannen".

Wir sahen uns an und fingen spontan beide an zu lachen. Ich dachte: Logisch, ich habe zum Glück kein Corona, aber ich habe Pandemie. So ist das dann eben. Wir stehen schon viel zu lange unter Hochdruck. Dann ging ich mich entspannen. Auf dem Nachhauseweg kaufte ich mir eine Flasche Champagner. Auf uns! Haltet durch! Und bis wir uns wiedersehen, bleibt bitte die, die ihr seid.

 


 

Karina Lübke studierte erst an der Folkwangschule Design und absolvierte dann bei Wolf Schneider die Hamburger Journalistenschule. Anschließend wurde sie Redakteurin und Kolumnistin („Das wahre Leben“) bei dem legendären Zeitgeistmagazin TEMPO und schreibt seitdem freiberuflich u.a. für das SZ-Magazin, die ZEIT, DIE WOCHE, den Stern, emotion, SALON, Myself, Brigitte MOM und WOMAN. Zwischendurch heiratete Karina Lübke, zog eine Tochter und einen Sohn groß und ließ sich scheiden. Sie lebt in Hamburg und findet, dass sie oft bessere Geschichten schreibt als das Leben.

 

Ihr neues Buch „Bitte recht feindlich“ ist jetzt im Buchhandel erhältlich. Es geht um Kerle und Kinder und kindische Kerle, um Politik, Gesellschaft, Geld und gute Worte. Und um Liebe – trotz allem. Dieses Buch fasst ihre besten Kolumnen aus der Zeitschrift BARBARA zusammen und enthält neue, bisher unveröffentlichte Texte.

 

 

 

 

 

 

 


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